VISION 20003/2007
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Europa verleugnet sich selbst

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Man (darf) nicht meinen (...), ein echtes “gemeinsames Haus" bauen zu können, wenn die den Völkern dieses unseres Kontinents eigene Identität vernachlässigt wird. Es handelt sich in der Tat zunächst um eine geschichtliche, kulturelle und moralische Identität und erst an zweiter Stelle um eine geographische, wirtschaftliche oder politische; um eine Identität, die aus einem Gesamt von universalen Werten besteht, zu deren Formung das Christentum beigetragen hat; somit hat es nicht nur eine historische, sondern eine gründende Rolle gegenüber Europa übernommen.

Diese Werte, die die Seele des Kontinents bilden, müssen im Europa des dritten Jahrtausends als “Sauerteig" der Zivilisation bestehen bleiben. Denn kämen sie abhanden - wie könnte der “alte" Kontinent weiterhin die Funktion eines “Sauerteigs" für die ganze Welt erfüllen?

Wenn die Regierungen der Union anläßlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge sich ihren Bürgern “annähern" wollen - wie könnten sie ein so wesentliches Element der europäischen Identität wie das Christentum ausschließen, mit dem sich eine große Mehrheit der Bürger weiterhin identifiziert? Ist es nicht Grund zur Überraschung, daß das heutige Europa einerseits danach strebt, sich als eine Wertegemeinschaft darzustellen, andererseits aber immer öfter zu bestreiten scheint, daß es universale und absolute Werte gibt? Führt diese einzigartige Form der “Apostasie" (Abstandnehmens, Anm.) von sich selbst, noch bevor sie Apostasie von Gott ist, Europa vielleicht nicht dazu, an der eigenen Identität zu zweifeln?

Schließlich wird so die Überzeugung verbreitet, daß die “Güterabwägung" der einzige Weg für die moralische Unterscheidung und daß das Gemeinwohl ein Synonym für Kompromiß sei. Der Kompromiß kann wohl ein legitimer Ausgleich von verschiedenen Einzelinteressen sein; er verwandelt sich aber jedesmal in Gemeinübel, wenn er Vereinbarungen mit sich bringt, die für die Natur des Menschen schädlich sind.

Eine Gemeinschaft, die aufgebaut wird, ohne die echte Würde des Menschen zu achten, insofern sie vergißt, daß jede Person als Abbild Gottes geschaffen ist, gereicht am Ende niemandem zum Wohl. Deshalb scheint es immer unerläßlicher, daß sich Europa vor dieser heute so weit verbreiteten pragmatischen Haltung hüte, die den Kompromiß über die wesentlichen menschlichen Werte systematisch rechtfertigt, als handle es sich um die unvermeidliche Annahme eines vermeintlich kleineren Übels.

Ein derartiger, als ausgewogen und realistisch präsentierter Pragmatismus ist im Grunde nicht so, gerade weil er jene Dimension der Werte und Ideale verneint, die der menschlichen Natur innewohnen. Wenn dann einem solchen Pragmatismus laizistische und relativistische Tendenzen und Strömungen eingepflanzt werden, verweigert man am Ende den Christen das Recht, sich als solche in die öffentliche Debatte einzubringen, oder es wird im besten Fall ihr Beitrag mit dem Vorwurf herabgesetzt, sie wollten unberechtigte Privilegien schützen.

Im aktuellen geschichtlichen Moment und angesichts der vielen damit verbundenen Herausforderungen kann die Europäische Union, wenn sie ein guter Garant des Rechtsstaates und ein wirksamer Förderer der universalen Werte sein will, nicht umhin, mit Klarheit das sichere Dasein einer beständigen und bleibenden menschlichen Natur anzuerkennen, die Quelle gemeinsamer Rechte für jeden einzelnen ist, einschließlich derer, die sie verneinen. In diesem Kontext ist das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen jedesmal, wenn die grundlegenden Menschenrechte verletzt werden, zu schützen.

Ansprache an die Teilnehmer eines Kongresses der Comece am 24.3.07

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