VISION 20002/2024
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Meine Tage zu zählen, lehre mich, Herr

Artikel drucken (P. Clemens Pilar)

Als mein Vater im Juni vor zehn Jahren einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, wurde er gemeinsam mit meiner Mutter, die nicht alleine zurückbleiben konnte, mit der Rettung abgeholt und ins Krankenhaus gebracht. Drei Wochen später verstarb mein Vater, meine Mutter lebte noch fünf Jahre in einem Senioren- und Pflegeheim. In die Wohnung sind beide nie mehr zurückgekehrt. Es war dann die Aufgabe von meinen Geschwistern und mir, diese zu räumen. Zu den wenigen Dingen, die ich mir aufgehoben habe, gehört ein einfacher Abreißkalender. Dieser zeigt immer noch das Blatt des elften Juni, des letzten Tages, den meine Eltern in ihrer Wohnung verbracht haben. Ich habe mir diesen Kalender deshalb mitgenommen und über meinem Schreibtisch aufgehängt, damit ich immer daran erinnert werde, dass jeder Tag der letzte sein kann und dass man vielleicht ganz plötzlich alles zurücklassen muss. So sollte der Kalender auch eine Hilfe werden, bei allem, was man zum Leben braucht, und bei allen Dingen, die man benützt, doch losgelöst zu bleiben (und auch rechtzeitig immer wieder zu entrümpeln). „Vergessen wir nie, dass alles, was wir haben, nur geliehen ist", war einer der Sprüche meines Vaters.
Daran musste ich denken, als mir kürzlich ein Interview mit dem Diakon und Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Gereon Heuft, untergekommen ist. Dieser hat immer wieder auch mit Schwerkranken und Sterbenden gearbeitet und sie begleitet. Im Rahmen dieses Interviews hat er gesagt, dass es gut ist, wenn man schon in gesunden Tage versucht, ein „abschiedliches Leben“ einzuüben: ,, Das heißt, sich mehr in seiner Begrenztheit wahrzunehmen und die eigene Endlichkeit in die ganzen Lebensvollzüge zu integrieren und damit auch immer schon ein Stück einzuüben, dass man eines Tages alles hergeben muss.“ Dazu gehört auch, dass man gelassener wird, einsehen lernt, dass man nicht immer recht hat und nicht immer alles bekommt und dass man sich auch von manchen Dingen aktiv trennen muss.
Ich denke, dass diese Gedanken eine gute Anregung für die Fastenzeit und die Vorbereitung auf Ostern sind. Ein „abschiedliches Leben" einzuüben ist ja kein Weg in die Traurigkeit, sondern kann helfen, Schritte in eine große innere Freiheit zu tun. Denn dieses „abschiedliche Leben" geht nicht auf ein Ende zu, sondern auf eine Wandlung. Es hilft uns, immer mit der Frage zu leben, was an dem, was unser Leben ausmacht, bleibenden Wert hat. Es hilft, keine falschen Schätze zu sammeln, sondern nach dem zu streben, was auch im Angesicht der Ewigkeit Bestand hat. Wer seine Tage zu zählen weiß, kann Weisheit gewinnen, so sagt es schon der Vers aus dem Psalm 90. Wer dies im österlichen Glauben tut, findet nicht nur zu einer inneren Gelassenheit, sondern auch zur festen Zuversicht, dass alles, was aus Liebe geschehen ist, für immer bleibt.                    

Der Autor ist Generalsuperior der Kalasantinerkongregation. Sein Beitrag ist der Zeitschrift Jünger Christi vom März 2024 entnommen.

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