In unserer Zeit, in der der Glaube in weiten Teilen der Welt zu verlöschen droht wie eine Flamme, die keine Nahrung mehr findet, ist die allererste Priorität, Gott gegenwärtig zu machen in dieser Welt und den Menschen den Zugang zu Gott zu öffnen. Nicht zu irgendeinem Gott, sondern zu dem Gott, der am Sinai gesprochen hat; zu dem Gott, dessen Gesicht wir in der Liebe bis zum Ende - im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus erkennen. Das eigentliche Problem unserer Geschichtsstunde ist es, daß Gott aus dem Horizont der Menschen verschwindet und daß mit dem Erlöschen des von Gott kommenden Lichts Orientierungslosigkeit in die Menschheit hereinbricht, deren zerstörerische Wirkungen wir immer mehr zu sehen bekommen. Die Menschen zu Gott, dem in der Bibel sprechenden Gott zu führen, ist die oberste und grundlegende Priorität der Kirche und des Petrusnachfolgers in dieser Zeit.
Aus ihr ergibt sich dann von selbst, daß es uns um die Einheit der Glaubenden gehen muß. Denn ihr Streit, ihr innerer Widerspruch, stellt die Rede von Gott in Frage. Daher ist das Mühen um das gemeinsame Glaubenszeugnis der Christen - um die Ökumene - in der obersten Priorität mit eingeschlossen.
(...)Aber nun frage ich doch: War und ist es wirklich verkehrt, auch hier dem Bruder entgegenzugehen, “der etwas gegen dich hat", und Versöhnung zu versuchen? Muß nicht auch die zivile Gesellschaft versuchen, Radikalisierungen zuvorzukommen, ihre möglichen Träger - wenn irgend möglich - zurückzubinden in die großen gestaltenden Kräfte des gesellschaftlichen Lebens, um Abkapselung und all ihre Folgen zu vermeiden?
Kann es ganz falsch sein, sich um die Lösung von Verkrampfungen und Verengungen zu bemühen und dem Raum zu geben, was sich an Positivem findet und sich ins Ganze einfügen läßt? Ich habe selbst in den Jahren nach 1988 erlebt, wie sich durch die Heimkehr von vorher von Rom sich abtrennenden Gemeinschaften dort das innere Klima verändert hat; wie die Heimkehr in die große, weite und gemeinsame Kirche Einseitigkeiten überwand und Verkrampfungen löste, so daß nun daraus positive Kräfte für das Ganze wurden.
Kann uns eine Gemeinschaft ganz gleichgültig sein, in der es 491 Priester, 215 Seminaristen, 6 Seminare, 88 Schulen, 2 Universitätsinstitute, 117 Brüder und 164 Schwestern gibt? Sollen wir sie wirklich beruhigt von der Kirche wegtreiben lassen?
(...) Gewiß, wir haben seit langem und wieder beim gegebenen Anlaß viele Mißtöne von Vertretern dieser Gemeinschaft gehört - Hochmut und Besserwisserei, Fixierung in Einseitigkeiten hinein usw. Dabei muß ich der Wahrheit wegen anfügen, daß ich auch eine Reihe bewegender Zeugnisse der Dankbarkeit empfangen habe, in denen eine Öffnung der Herzen spürbar wurde.
Aber sollte die Großkirche nicht auch großmütig sein können im Wissen um den langen Atem, den sie hat; im Wissen um die Verheißung, die ihr gegeben ist? Sollten wir nicht wie rechte Erzieher manches Ungute auch überhören können und ruhig aus der Enge herauszuführen uns mühen? Und müssen wir nicht zugeben, daß auch aus kirchlichen Kreisen Mißtönendes gekommen ist?
Manchmal hat man den Eindruck, daß unsere Gesellschaft wenigstens eine Gruppe benötigt, der gegenüber es keine Toleranz zu geben braucht; auf die man ruhig mit Haß losgehen darf. Und wer sie anzurühren wagte - in diesem Fall der Papst -, ging auch selber des Rechts auf Toleranz verlustig und durfte ohne Scheu und Zurückhaltung ebenfalls mit Haß bedacht werden.
Aus dem Brief an die Bischöfe im Anschluß an die Turbulenzen nach der Aufhebung der Exkommunnikation der Bischöfe der
Piusbruderschaft vom 10.3.09.