Es geht in diesem Schwerpunkt nicht darum, eine mittelalterliche Idylle zu zeichnen, in der die Botschaft Christi eine heile Welt erzeugt habe. Das 1000jährige Mittelalter war vielmehr – wie jede Periode der Geschichte – geprägt von Phasen des Aufschwungs und der Degeneration, der Erneuerung und des Verfalls.
Immer wieder bedurfte das gesellschaftliche Leben der Erneuerung: So spricht man von der „Karolingischen Renaissance“ (Wende zum 9. Jahrhundert), der „Gregorianischen Reform“ (11. Jahrhundert), der Reformbewegung durch die Bettelorden (13. Jahrhundert)… Das Gemeinsame dieser Reformen: Sie hatten einen festen Bezugspunkt, die Heilige Schrift, die Lehre der Kirchenväter. Eine Erneuerung von der Wurzel her war also möglich, eine Wiederbelebung des Geistes, der die vorherrschende Kultur vom Ursprung her geprägt hatte.
Das Auf und Ab von Blüte und Verfall im Mittelalter macht deutlich: Das Errichten einer christlichen Kultur allein reicht nicht, um die Geschicke der Menschen zum Guten zu lenken. Sicher bietet eine solche Kultur eine gute Basis für menschliche Entfaltung. Aber sie bewahrt nicht vor Fehlverhalten, Hybris und Mißbrauch von Macht und Reichtum.
Weil es gegen Ende des Mittelalters zu ärgerniserregendem Fehlverhalten, vor allem auch bei kirchlichen Würdenträgern kam, wurde der Boden für eine grundsätzliche Infragestellung des bisherigen Ansatzes aufbereitet. Für heutige Vorstellungen kaum nachvollziehbar war der Verfall des Papsttums: Gefangenschaft in Avignon, Gegenpäpste, Päpste, die sich als weltliche Herrscher (Alexander VI.), ja als Kriegsherren verstanden (Julius II.). Kein Wunder, daß sich Unmut regte, nach tiefgreifenden Reformen gerufen wurde.
Reformatoren traten auf den Plan: Hus, Luther, Zwingli, Calvin. Es kommt zur Glaubensspaltung. Sie wird von Europas Fürsten, die in der Emanzipation vom einheitsstiftenden Prinzip der Christenheit die Chance auf Machterweiterung sehen, instrumentalisiert. Es folgen Jahrzehnte mörderischer Religionskriege.
Mit der Krise des Glaubens, dem tragenden Element der mittelalterlichen Ordnung, beginnt eine Befreiungsbewegung von jenem kulturellen Rahmen, in dem sich das Leben des Menschen bis dahin abgespielt hatte.
Kardinal Joseph Ratzinger kennzeichnet dies (in Glaube, Wahrheit, Toleranz), wie folgt: „Die Epoche, die wir Neuzeit nennen, ist von Anfang an durch das Thema Freiheit bestimmt; der Aufbruch nach neuen Freiheiten ist überhaupt der einzige Grund, der zu einer solchen Periodisierung berechtigt. Luthers Kampfschrift Von der Freiheit eines Christenmenschen schlägt sofort das Thema in kräftigen Tönen an. (…) Es ging um die Freiheit des Gewissens gegenüber der kirchlichen Autorität, also um die innerste Freiheit des Menschen überhaupt. (…) Daß plötzlich das ganze Ordnungssystem der mittelalterlichen Kirche letztlich nicht mehr zählte, wurde als ein ungeheuerer Befreiungsschub empfunden.“
Und weiter: „Der ganzen Aufklärung gemeinsam ist der Wille zur Emanzipation… (…) Es geht um den Ausbruch der Einzelvernunft aus den Bindungen der Autorität, die alle kritisch überprüft werden müssen. Nur das vernünftig Einsichtige soll gelten.“
René Descartes, Philosoph und Mathematiker, beeindruckt von den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, zeigt schon im 17. Jahrhundert die Perspektiven auf, die das Denken und Streben unserer Tage prägen. Es gehe darum, schreibt er (in Discours de la méthode), „eine praktische (Philosophie) zu finden, die uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unserer Handwerker kennen, so daß wir sie auf eben dieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen könnten.“
Voltaire greift diese Gedanken im 18. Jahrhundert auf und verhilft ihnen zum Durchbruch. Dazu der Historiker Jean Daujat: „Von da an wird die grenzenlose Zuversicht in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft vorherrschen. Sie stützt sich ebenso auf die raschen Erfolge des Fortschritts aller Wissenschaften wie auf die erfolgreichen literarischen Werke der großen Klassiker: der Mensch, der ausschließlich auf die natürliche Erleuchtung seiner Vernunft vertraut, braucht keine göttliche Offenbarung. Er ist von Natur aus gut und bedarf nicht der Gnade und des Heils. (…) Gleichzeitig mit dem Christentum lehnt Voltaire aber alle Religionen ab, die vom Eingreifen Gottes reden oder davon, man könne mit Ihm in Beziehung treten.“
Damit sind wir bei der Aufklärung angelangt, in der ein fundamentales Gegenkonzept zum bis dahin christlichen Grundentwurf Europas ans Licht tritt. An die Stelle Gottes als Maß aller Dinge, als Ursprung und Ziel, tritt nunmehr der Mensch, durch dessen Vernunft sich Perspektiven eines grenzenlosen Fortschritts auftun würden. Den Stand des Wissens sollte im 18. Jahrhundert die Encyclopédie zusammenfassen, um die Souveränität des Menschen zu dokumentieren.
Dazu Daujat: „ Die Encyclopédie sollte eine vollständige Übersicht über alles menschliche Wissen, das durch die menschliche Vernunft erworben worden war, bieten. Ihre Initiatoren, Diderot und der große Mathematiker d’Alembert, machten aus ihr eine Waffe gegen das Christentum und alle Religionen, indem sie behaupteten, sie beweise die grenzenlosen Fähigkeiten der menschlichen Vernunft. Die Encyclopédie hatte einen enormen Einfluß auf die Verbreitung eines Rationalismus, der sich jeder Offenbarung und jeder göttlichen Einflußnahme entgegenstellte…“
Aus der berechtigten Kritik an Mißständen war eine geistige Revolution geworden, die alles auf den Kopf stellte: An die Stelle Gottes als Gesetzgeber tritt der Mensch, von dem Jean Jacques Rousseau postuliert, er sei von Natur aus gut. Emmanuel Joseph Sieyès, Generalvikar von Chartres, Freimaurer, Wegbereiter des Umsturzes in Frankreich bringt diese Umkehrung auf den Punkt:
„Die Nation besteht vor allem anderen, sie ist der Ursprung von allem. Ihr Wille ist legal, sie selbst ist das Gesetz… Die Nation ist nicht nur keiner Verfassung unterworfen, sondern sie kann es nicht sein, sie darf es nicht sein, also gleichen Sinnes gesagt, ist sie es nicht… Eine Nation kann auf irgendeine Weise wollen, es genügt, daß sie will; alle Formen sind gut, und ihr Wille ist immer das oberste Gesetz.“
In diesen wenigen Sätzen sind bereits die Weichen hin zu allen Totalitarismen der folgenden Jahrhunderte gestellt: der Mensch als höchste Instanz. Man ist an die Verheißungen des Widersachers im Paradies erinnert: Ihr werdet sein wie Gott.
Diesen Emanzipationswillen kennzeichnet Kardinal Ratzinger (Glaube, Wahrheit…) so: „Das implizite Ziel aller modernen Freiheitsbewegungen ist es, endlich wie ein Gott zu sein, von nichts und niemandem abhängig, durch keine fremde Freiheit in der eigenen beschränkt. “ Damit sei das Bild einer Göttlichkeit errichtet, die rein egoistisch ist, erklärt Ratzinger, „ein Götze, ja, das Bild dessen, was die christliche Überlieferung den Teufel – den Gegengott – nennen würde…“
Daher auch die Feindschaft gegenüber der Kirche. Von Voltaire stammt das Wort: „ Écrasez l’infâme!“ – „Zermalmt die Niederträchtige!“ Und: „Es gibt ein Recht auf Blasphemie, sonst gibt es keine wahre Freiheit.“ Bei Jean Meslier, einem Priester, der im Selbstmord endete und dem die Französischen Revolution ein Denkmal errichten wollte, liest man es wieder so: „Alles, was Euch Eure Priester und Eure Doktoren so beredsam über die Größe, das Vortreffliche und das Heilige der Mysterien predigen, ... ist im Grund nichts als Illusionen, Lügen, Vorspiegelungen und Betrug, zuerst zu politischen Zwecken erfunden, dann von Verführern und Heuchlern fortgesetzt und von unwissenden, groben Völkern empfangen und blind geglaubt.“
Klarerweise drängte diese in den Debattierklubs und Zirkeln der Aufklärer entwickelte Sichtweise auf Umsetzung. Sie inspirierte die Elite Frankreichs (Adelige, Geistliche und Bürger), das von Gottes Gnaden errichtete (jedoch äußerst dekadente) Königtum zu stürzen, um das neue Reich der Freiheit zu errichten. Seither wird die Französische Revolution als Anbruch einer neuen Zeit des Fortschritts angesehen.
Um welchen Preis dieser „Fortschritt“ erkauft wurde, zeigen die Opferzahlen: 17.000 zum Tode Verurteilte, 35.000 Opfer der „Terreur“, 400.000 bis 1800 in Kriegen Gefallene und eine weitere Million Opfer in den napoleonischen Kriegen.
Mit welcher Grausamkeit ans Werk gegangen wurde, kommt im Brief des Generals Westermann, der die Revolutionstruppen in der Vendée befehligt hatte, zum Ausdruck. An den Konvent schrieb er am 23.12.1793: „Die Vendée gibt es nicht mehr. Ich habe sie soeben in den Sümpfen von Savenay begraben. Ich habe Kinder unter den Hufen der Pferde zertreten und Frauen massakriert. Nicht einen einzigen Gefangenen habe ich mir vorzuwerfen. Ich habe alles ausgelöscht...“
Keine Frage: Grausamkeit ist keine Spezialität von Revolutionären, wohl aber Kennzeichen aller folgenden Versuche, endgültig das Reich des Menschen aufzurichten. Unvorstellbare Blutbäder gab es in der Commune de Paris (1871), unter der Sowjetherrschaft in Rußland, der Naziherrschaft in Deutschland, der Kulturrevolution in China… Wo immer der Mensch alle Rückbindungen an eine transzendente Vorgabe ablegt, artet das Geschehen in Unmenschlichkeit aus.
Was lehrt uns dieser Rückblick? Daß Europa mit zwei Menschen- und Weltbildern konfrontiert ist: mit dem christlichen, aus dessen Wurzeln es hervorgegangen ist, und mit dem der Aufklärung, das sich als Gegenentwurf versteht und dessen Umsetzungsversuche die Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte geprägt hat. Dazu Kardinal Ratzinger (in: Ohne Wurzeln – Der Relativismus und die Krise der europäischen Kultur):
„So hat in Europa einerseits das Christentum seine wirksamste Gestaltwerdung erlebt, aber zugleich ist in Europa eine Kultur gewachsen, die den radikalsten Widerspruch nicht nur gegen das Christentum, sondern gegen die religiösen und moralischen Traditionen der Menschheit überhaupt darstellt. “
Wir stehen mitten in diesem Kulturkampf. Obwohl er nicht mit Waffen ausgefochten wird, nimmt er an Intensität zu, denn die Gottlosigkeit ist mittlerweile zur Staatsreligion geworden. Daher schreitet sie im öffentlichen Raum voran. Wesentliche, christlich geprägte Werte werden mit scheinbar menschenfreundlichen Gesetzen und im Namen der Menschenrechte unterlaufen: das Lebensrecht des ungeborenen Kindes wird dem Selbstbestimmungsrecht der Frau geopfert, die Gestalt der Familie dem Diskriminierungsverbot gegenüber Homosexuellen, das Erziehungsrecht der Eltern gesundheitspolitischen Verpflichtungen des Staates, das die Religionsfreiheit wird umgedeutet, um die Freiheit von Religionsausübung im öffentlichen Raum durchzusetzen…
Ohne fixen, transzendenten Bezugspunkt erweisen sich die Menschenrechte als Blendwerke, die je nach Nützlichkeit so oder so zum Zuge kommen.
An dieser Stelle ist es mir wichtig festzuhalten, daß Sie, liebe Leser, diese Aussagen nicht als Klagelied, sondern als Situationsbeschreibung aufnehmen. Wer als Christ bestehen will, ist geistig mit einem zunehmend heftigen Gegenwind konfrontiert.
Diesem geistigen Kampf müssen sich Christen heute stellen. Bestehen werden sie ihn, wenn sie nicht auf eigene Kraft und kluge Einsichten, sondern auf größere Hingabe an den Heiligen Geist setzen. Er ist uns in dieser österlichen Zeit in besonderer Weise zugesagt.
Und Er wird uns zu Zeugen der Wahrheit rüsten wie die Apostel zu Pfingsten: Damit auch wir verkünden, daß nur in Jesus Christus das Heil ist, heute wie seit jeher.
Christof Gaspari