Viele kommen heute kaum mit den Lasten ihres Alltags zurecht, leiden unter Depressionen, an der scheinbaren Sinnlosigkeit ihres Lebens. Wohin sollen sie die Blicke lenken, um Hoffnung schöpfen zu können? Auf die Heiligen, rät Urs Keusch.
Ein Freund von mir fragte mich neulich unvermittelt: “Wie kamst Du eigentlich zum Glauben? Was hat dazu den Grund gelegt, den entscheidenden Impuls gegeben?" Ich konnte diese Frage nicht gleich beantworten, mußte erst darüber nachdenken. Und je länger ich das tat, umso weiter führte mich der verschlungene Weg zurück in meine Kindheit. Mir wurde bewußt, daß der entscheidende Impuls von einer Antoniusstatue ausging, die hinten beim Eingang unserer Dorfkirche an der Seitenwand angebracht war. Am heiligen Antonius kam ich jedesmal vorbei, wenn ich als Bub in die Kirche ging oder gehen mußte, um eine lange Zeremonie und eine meist nicht endenwollende Predigt mehr oder weniger tapfer zu überstehen.
Der Anblick des heiligen Antonius, das Jesuskind auf dem linken Arm, in der rechten Hand ein Brot, das er den Armen hinreicht - ich meine, dieser immer erneute Anblick war wie ein Sonnenstrahl, der in meiner kindlichen Seele die ersten zarten Keime eines lebendigen Glaubens an Gott, an Jesus Christus hervorgelockt hat. Die Liebe dieses Heiligen zu den Armen, den hungrigen Menschen damals, das Jesuskind, wie es zuschaut, wie Antonius Brot an die armen Kinder, Mütter und Bettler verteilt, dieser Anblick war für mich als Kind ganz ergreifend.
Hier fühlte ich mich von Gottes Liebe sanft ergriffen, in meiner Sehnsucht verstanden, während der Gottesdienst, das blecherne Orgelgebraus, die langen Predigten dazu angetan waren, in meinem religiösen Gemüt den Grund für eine kindliche Schwermut zu legen... Auch der Katechismusunterricht hatte die Eigenschaft, aus dem Frühling meiner Seele die Heiterkeit zu vertreiben.
Das geschah dann auch über viele Jahre, als wir - unsere Generation - Nietzsches Zarathustra, Sartre, Camus, Kafka etc. zu lesen und zu studieren begannen, und uns von den dunklen Strömungen des Nihilismus aufs uferlose Meer hinaustreiben ließen. Das war eine dunkle Zeit.Wir waren ja überzeugt, daß die Glocken am Sonntagmorgen schon lange nur noch für einen toten Gott läuteten, wie Nietzsche bereits vor 100 Jahren verkündet hatte.
Man muß diesen “Glauben" des Atheismus und Nihilismus über Jahre hinweg als eine Finsternis, als Verzweiflung mit sich herumgetragen haben, muß diesen Kelch bis zur Neige ausgetrunken haben, um eine Ahnung zu bekommen, was mit einem Leben ohne einen Schimmer Hoffnung gemeint sein könnte - was ein Leben ohne Sinn und ohne Zukunft für einen jungen Menschen ist, der ja zuerst und vor allem leben und nichts als leben will!
Aber - so naiv es klingt - da gab es noch den heiligen Antonius! Und einen heiligen Franziskus, von dem ich auch schon gehört hatte, einen Don Bosco! Auch wenn für uns Gott tot war, tot sein mußte - es sagten ja “alle Großen dieser Welt", er sei tot -, so war für mich doch die Erinnerung an meinen heiligen Antonius noch da, tief innen war sie noch da, wie die Wehmut um eine erste Liebe.
Dann wurde Mutter Teresa im deutschen Sprachraum bekannt. Was für ein Mensch, was für eine Frau! Was für ein Licht ging da für mich am Horizont einer untergehenden Welt auf! Und die Frage stand unerbittlich auf: Sind das denn alles Dummköpfe: der heilige Antonius, Franziskus, Don Bosco, und jetzt Mutter Teresa? Dienten, dienen sie einem toten Gott? Warum sind sie dann voll Liebe, voll Hoffnung? Warum leben sie, kämpfen sie, warum lassen sie sich von Finsternis und Frustration, vom Bösen in der Welt nicht anstecken? Ja, warum sind im Grunde nur sie es, von denen wirklich Licht, Sinn, Zuspruch, Hoffnung ausgehen, während die Philosophen des Nihilismus, einer nach dem andern, verzweifelt sind, im Alkohol, im Heroin vernebelt, in der Nacht des Wahnsinns untergegangen?
So fragte ich mich, so sagte ich mir! Und je länger ich mir die Heiligen anschaute, je mehr ich mich ihrem Geheimnis annäherte, umso mehr verblaßte für mich das “Licht" der philosophischen Aufklärung. Ja, es ist eben unumstößlich wahr: in einem Heiligen ist mehr Licht und Wahrheit, mehr Zuspruch, mehr Hoffnung, mehr Leben, Licht und Liebe als in den Büchern der Philosophen - so wie es wahr ist, daß das kleinste Licht auf Erden größere Macht hat als die Finsternis einer ganzen Nacht, ja, des ganzen Universums.
Unlängst schrieb mir eine Frau aus Wien, die selbst nicht katholisch ist, aber tief von Mutter Teresa ergriffen: “Eigentlich kenne ich niemand, der Mutter Teresa nicht liebt." Ich mache die gleiche Erfahrung. Mutter Teresa ist ein Licht für die ganze Welt, eine Hoffnung, auch für die nichtchristliche Welt, auch für die Menschen anderer Religionen. Woher kommt das?
Die Antwort ist einfach: Weil sie eine Heilige ist. Was ist eine Heilige? Ein Mensch, der eine Hoffnung hat, weil er sich am Feuer, weil er sich im Feuer aufhält: im Feuer der Liebe Gottes, im Feuer, das Christus auf die Erde gebracht hat und das Er selber ist. Ein Heiliger ist ein Mensch, der vor allem durch seine tätige Liebe den Menschen verkündet, daß er Hoffnung hat, eine weltbesiegende Hoffnung. Ein Heiliger ist ein Mensch, in dem das Licht Christi leuchtet: die Hoffnung, die Zukunft, die Ewigkeit!
Zu Mutter Teresa hat Christus am Anfang ihrer Berufung gesagt: “Komm, sei mein Licht." Sei mein Licht! Sei meine Hoffnung! Sei meine Liebe!
Es wird sich als Wahrheit erweisen: Nur die Heiligen retten den Menschen, retten ihn vor Atheismus, Nihilismus, Frustration, retten ihn vor Selbstverachtung und Selbstzerstörung, vor Absurdität, Sinnlosigkeit, Vereinsamung, Depression, Enttäuschung, vor der Verzweiflung. Nur sie retten den Menschen heute, der sein Leben immer mehr als eine sinnlose, unerträgliche, absurde Last empfindet, vor allem in den älteren Tagen.
Treffend drückt das Graham Greene in seinem Roman Die Kraft und die Herrlichkeit aus, als der Priester - kurz vor seiner Hinrichtung - dem Polizeileutnant sagt: “Sie haben recht, die Armen tragen schwer am Leben - aber auch die Reichen! Nur die Heiligen nicht!" - Nur die Heiligen nicht!
Warum sie nicht? Weil sie das Schwere dieses Lebens, das Tragische, das scheinbar Absurde, das, was uns gewöhnlich niederdrückt, entmutigt, bisweilen der Hoffnung beraubt, weil sie Krankheit, Armut, Schmerz, Demütigung, Mißerfolg, Dunkelheit, ja, selbst den Tod mit andern Augen sehen als wir: Mit den Augen des Glaubens, den Augen der Hoffnung, den Augen der Liebe! Denn sie erkennen im Kreuzweg, den die Menschen, sehr viele Menschen gehen - auch schon Kinder und Jugendliche - den Kreuzweg ihres Herrn.
Sie sehen in diesen Menschen Jesus! Und sie entbrennen in Liebe zu diesen Menschen. Sie finden darin die Leidenschaft, Jesus ihre Liebe zu beweisen, Ihn zu berühren, Ihn zu umarmen und zu küssen. “Ich war behindert, allein, arbeitslos, schrecklich einsam und verlassen, der Würde beraubt, abgeschoben, meines Daheims beraubt - und ihr habt mich besucht, habt euch an meinen Tisch gesetzt und mit mir einen Kaffee getrunken, ihr habt mir zugehört, meine Krankheit ernstgenommen, mir Urlaubstage ermöglicht, als ich durchzudrehen drohte, ihr habt mich an der Hand genommen, mich umarmt, mich geküßt...!" Das ist der Glaube der Heiligen, das ihre Hoffnung, das ihre Liebe. Mit den Worten von Mutter Teresa: “Wir müssen den Durst eines Gottes stillen, der aus Liebe stirbt."
Heiliger Antonius, hilf uns, das Brot der Hoffnung den Armen unserer Tage auszuteilen, “in der Familie, in der Nachbarschaft, auf der Straße. Das ist schwer, aber hier beginnt die Arbeit!" (Mutter Teresa).