VISION 20004/2009
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Das Schweigen brechen

Artikel drucken Das Thema Abtreibung darf nicht weiterhin tabu bleiben

Ich blättere in den Aufzeichnungen der letzten Monate: Viele erschreckende Nachrichten, an die man sich im Lauf der Zeit jedoch gewöhnt hat, weil die Kultur desTodes unaufhaltsam voranzuschreiten scheint. Sind wir dem Trend hilflos ausgeliefert?

In Schweden dürfen Kinder, die nicht das von den Eltern gewünschte Geschlecht haben, abgetrieben werden - bis zur 18. Woche. Das hat die “Nationale Gesundheitsbehörde" - Gesundheit! - entschieden.

Das Europaparlament stimmt im April dem “Trakatellis-Bericht" zu. Er zielt darauf ab, genetisch bedingte seltene Erkrankungen auszumerzen. Das Instrumentarium: “genetische Beratung der als Krankheitsüberträger fungierenden Eltern", sprich Abtreibung bei absehbarer Behinderung, bzw. “die Auswahl von gesunden Embryos vor der Implantation."

Nicaraguas Regierung wird von einer UNO-Kommission gerügt, das Land halte die UN-Anti-Folterkonvention angeblich nicht ein: Das gesetzliche Abtreibungsverbot sei mit einem Regierungsauftrag zur Folter, zumindest aber mit einer grausamen Behandlung gleichzusetzen.

In Frankreich will man Hebammen verpflichten, die abtreibende “Pille danach" zu verabreichen.

Und: Wiens Bürgermeister lädt im September zu einer Feier anläßlich des 30jährigen Bestehens von “pro-women", einer der großen Abtreibungskliniken, ins Wiener Rathaus ein. Deren Geschäftsführerin schätzte übrigens im Vorjahr die Zahl der Abtreibungen in Österreich auf 30.000 bis 35.000 im Jahr!

Fazit: Die Straffreiheit für Abtreibung wurde uns vor Jahrzehnten als Notlösung in trostlosen Ausnahmefällen verkauft. Sie hat sich zum etablierten Recht entwickelt, Kinder zu töten. Dieses weitet sich mehr und mehr zum Recht aus, über das Leben anderer zu verfügen. Neuestes Beispiel: Die Schweizer Regierung handelt mit “Exit" (Vereinigung für Sterbehilfe) Spielregeln für die Beihilfe zum Selbstmord aus.

Aber lassen wir zunächst die oben erwähnten Zahlen der Abtreibungen auf uns wirken. Mindestens 30.000 pro Jahr - das behaupten nicht Abtreibungsgegner, denen man vorwerfen könnte, sie übertrieben, um zu dramatisieren. Nein, die Zahl nennt eine “Insiderin". Weil in Österreich seit rund 35 Jahren abgetrieben wird, würde das bedeuten, daß in diesem Zeitraum hierzulande rund eine Million Kinder im Mutterleib umgebracht worden sind.

Eine Million Kinder bedeutet: eine Million Mütter, eine Million Väter - und viele Großmütter, Großväter, Freunde, die zur Abtreibung gedrängt oder geraten, bzw. davon gewußt haben, ohne etwas zu unternehmen. Ist es übertrieben, diese Zahl auf 3 Millionen zu schätzen? Dazu kommt das Leid jener, die hilflos miterleben mußten, wie das eigene Kind, der Enkel, die Schwester getötet wurden. Und das bei einer Bevölkerung von 8,5 Millionen!

Hält man sich das vor Augen, versteht man, warum das Thema Abtreibung kaum mehr öffentlich debattiert wird. Es sind eben zu viele unmittelbar betroffen. Zu viele haben da Schuld auf sich geladen, haben diese Schuld verdrängt, aus dem Gedächtnis gestrichen, wollen nur ja nicht mit dem Thema konfrontiert werden, reagieren empört, ja aggressiv, wenn jemand eine kritische Bemerkung macht. Also ist das Thema tabu.

Auch die Kirche hält sich zurück. Man zitiert zwar gern das Wort von Kardinal König, Abtreibung sei “eine tiefe soziale Wunde". Dann aber wird nur allzu leicht zur Tagesordnung übergangen. Denn die meisten Christen haben längst resigniert. Wann haben Sie, liebe Leser, zuletzt eine aufrüttelnde Predigt zum Thema gehört? Und wann das letzte Mal selbst in einem Gespräch engagiert Partei für die ungeborenen Kinder ergriffen?

Zugegeben: Es ist nicht leicht, den richtigen Ton, das richtige Maß zu finden und den rechten Moment zu erkennen, sich zu äußern. Es ist schwierig, nicht Schlagworte zu dreschen, nicht selbstgerecht zu wirken, nicht von oben herab zu verurteilen...

Dennoch ist es höchste Zeit, Position zu beziehen, Meinung zu bilden und zu widerlegen, was dauernd behauptet wird: daß Frauen ein Recht hätten zu entscheiden, ob sie ein Kind austragen wollen oder nicht, daß es für Kinder besser sei, nicht geboren als später nicht geliebt zu werden, daß es unmenschlich sei, bei Abtreibung Strafen zu verhängen...

Diese aus der Lüge geborenen Stehsätze haben sich als Selbstverständlichkeiten ins Bewußtsein der Völker eingefressen. Dagegen muß endlich etwas unternommen werden. Weil die Menschen ein Anrecht darauf haben, die Wahrheit zu erfahren - gerade jene, die schuldbeladen sind.

Wie sollen sie denn aus ihrer Misere herausfinden, wenn niemand das Lügengespinst rund um den Umgang mit dem menschlichen Leben entlarvt? Man tut doch einem Krebskranken auch nichts Gutes, wenn man ihn über seine Lage im Unklaren läßt und damit verhindert, daß er sich einer lebensrettenden Operation unterzieht.

Gleiches gilt für die Schuld, die so viele Mitbürger durch Duldung oder Mitwirkung an einer Abtreibung auf sich geladen haben und weiterhin laden. Sie ist eine objektive Gegebenheit, die den Menschen langsam zerstört, ob er es merkt oder nicht. Viele Frauen leiden an einem Post-Abortion-Syndrom, einem Trauma, das früher oder später nach einer Abtreibung auftritt. Dieses Leiden kann der Auslöser für eine Besinnung und Umkehr bieten. Aber viele, vor allem die weniger direkt Beteiligten, die Väter der umgebrachten Kinder, die Eltern der abtreibenden Frau, verdrängen das Unrecht. Und dennoch lastet auch auf ihnen die Schuld.

Sie geraten damit unbewußt in den Sog der Kultur des Todes, verlieren über kurz oder lang den Blick für Gut und Böse. “Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären," heißt es bei Friedrich Schiller, der damit nur zum Ausdruck bringt, was uns der christliche Glaube sagt: Daß wir in einem geistigen Kampf stehen, in dem es um alles geht, um Tod und Leben, um Segen oder Fluch. Ich habe dies schon so oft geschrieben - und verliere es dennoch selbst allzu leicht aus den Augen.

Die Frage des Lebensschutzes ist kein Nebenkriegsschauplatz. Hier geht es um das Überleben der Völker. “Die Option für das Leben und die Option für Gott sind identisch," stellte Papst Benedikt XVI. vor Priestern in Rom fest. Wir müssen uns bewußt machen: Indem unsere Gesetzgebung gegen das Leben optiert, begibt sie sich auf den Weg der Gottlosigkeit, der notgedrungen, früher oder später, ins Chaos führen muß. Denn der Mensch ist und bleibt ein Geschöpf Gottes. Er kann auf Dauer nicht außerhalb der Ordnungen Gottes existieren. Die unübersehbaren Alarmsignale (Kriminalität, Depression, Drogensucht, Alkoholismus...) zeigen: dies ist kein frommer Spruch.

Was tun? Das Naheliegende. Zeugen des Lebens sein, Zeugen der Freude am Leben, in den alltäglichen Kleinigkeiten: den Blick schärfen für die Kostbarkeit der Kinder, der Enkel, des Ehepartners, des Mitarbeiters... - und sich dementsprechend verhalten. Sich von Gott Zuversicht erbitten, um Freude zu erleben und auszustrahlen. Mut machen zum Leben, auch und gerade unter den schwierigen Bedingungen von heute. Widerwärtigkeiten und Leiden ertragen lernen, im Bewußtsein, daß diese Haltung unerwartete Wege des Heils öffnet. Vor allem: erfahrbar machen, daß Treue, Keuschheit, Reinheit nicht verzopfte Werte sind, sondern Haltungen, die Leben gelingen lassen. Kurzum, sich für ein Leben aus dem Heiligen Geist öffnen, der in unserer Schwachheit Wunder wirken kann.

Und Er, der Heilige Geist, wird es auch sein, der uns die rechten Worte eingibt, damit wir im richtigen Moment die Wahrheit über das Leben in angemessener Form sagen. Ganz einfache Wahrheiten: Daß Gott Herr des Lebens ist. Daß jeder Mensch ein Geschenk Gottes an die Welt ist. Daß jeder von Gott geliebt und daher liebenswert ist. Daß das Leben unbedingt schützenswert ist - weil sonst alles seinen Wert verliert. Aber auch, daß Abtreibung, Euthanasie und Menschenbastelei Greueltaten sind, die schwere Schuld auf die Beteiligten legen.

So schwerwiegende Aussagen darf jedoch nur machen, wer auch Wege aus der Schuld weist. Hier ist die Kirche heute besonders gefordert, die Tore weit zu öffnen, damit wir alle, die wir mehr oder weniger verstrickt sind in die Kultur des Todes, unsere Lasten in der Beichte ablegen können und von Jesus neues Leben im Heiligen Geist geschenkt bekommen.

Nur der Priester kann im Namen Gottes Schuld vergeben. Ist nicht das Priesterjahr, das Papst Benedikt vor kurzem eröffnet hat, die Gelegenheit, vielen diese wunderbare Befreiung zu verkünden und zu schenken?

Christof Gaspari

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