Im Lissabon-Vertrag wird jeder Bezug auf die christlichen Wurzeln der EU konsequent vermieden. Als gealterter “Neubekehrter" habe ich mich an der jahrelangen Diskussion interessiert und enttäuscht beteiligt. Hatte ich doch als jugendlicher “Heide" in der Schule gelernt, daß das Christentum die antike Welt zum Umsturz gebracht hatte und daß wir heute unser Wissen über die Antike durch die Wirren der Völkerwanderungszeit hindurch dem Mönchtum verdankten.
Im ausgehenden Mittelalter habe sich in vielfältigem Gegensatz zur Kirche, jedoch aus derselben geistigen Wurzel, schließlich die “Neuzeit" durch Aufklärung und Säkularisierung entwickelt. Atheistische Systeme (Realer Sozialismus, Nationalsozialismus) hätten sich als dramatische Fehlentwicklungen selbst entlarvt. 50 Jahre später muß ich mir nun als Christ anhören, daß diese Sicht eine maßlose Überschätzung des Christentums sei.
So habe ich mit großem Interesse zum Buch von Alvin J. Schmidt, em. Professor für Soziologie am Illinois College, Jacksonville, USA, gegriffen. Zielsicher setzt Schmidt dort an, wie Jesus Menschen verwandelte, Seine Jünger zuerst, bis heute. Die große Zahl derer, die seit den Anfangsjahren des Christentums durch Jesu Leben, Tod und Auferstehung verändert wurden, hat die Welt verwandelt: “Die Jünger Christi stellten die Welt auf den Kopf - sozial, politisch, ökonomisch und kulturell". Das Wort “Kirche" vermeidet der evangelische Autor konsequent.
Der Autor stellt alles ausführlich mit Quellenangaben in den historischen Rahmen, zeigt die Selbstverständlichkeit von Kindestötung, Aussetzung von Neugeborenen, Abtreibung, Gladiatorenspielen, Menschenopfer, Selbstmord und Promiskuität der Antike. Die meisten von uns hätten keine Vorstellung davon, wie niedrig die Stellung der Frau damals war. Die griechische Frau durfte sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen, die römische hatte kein Eigentumsrecht. Und obwohl sich das Judentum darin wohltuend von der griechisch-römischen Welt unterschied, war die Frau dort auch ein Wesen zweiter Klasse. Radikale Veränderungen gab es für Frauen erst in der christlichen Urgemeinde.
Schmidt weist auf, wie der säkulare Wohlfahrtsstaat in Nächstenliebe und Barmherzigkeit wurzelt. Die Antike kannte keine Krankenhäuser, der säkulare Staat der Gegenwart schätzt das Rote Kreuz.
Die Christen waren nicht die ersten, die Schulen gründeten, aber die ersten, die in diesen Schulen Buben und Mädchen, Männer und Frauen unterrichteten. Auch wurde die moderne Wissenschaft erst möglich durch die jüdisch-christliche Auffassung von der Rationalität Gottes und von der Grundannahme, daß Gott, Schöpfer der Welt, ihr als Person separat gegenübersteht.
Um die christlichen Wurzeln der Wissenschaft zu beschreiben, beruft sich der Autor darauf, daß die Pioniere der Wissenschaft Christen waren - beginnend bei Kopernikus über Kepler, Leonardo da Vinci, Paracelsus, und viele namhafte Forscher, allerdings endend bei Kelvin. Das ist zulässig, kommt mir aber manchmal vereinnahmend, manchmal verkürzt vor. Zurecht betont der Autor, “daß die experimentelle Naturwissenschaft, sobald sie die Verbindung zu einem lebendigen Gottesglauben verlor, auch problematische Folgen zeitigte und den Zusammenhang des Lebens zerstörte, bis zur heutigen ökologischen Krise".
Alvin J. Schmidt, hier ganz evangelischer Amerikaner, begründet biblisch (“gebt dem Kaiser...), wie sich die Freiheit der Kinder Gottes von der englischen Magna Carta über die Verfassung der USA bis zur Trennung von Kirche und Staat politisch manifestiert. Die lebendigsten Kapitel betreffen “Abschaffung der Sklaverei" und “USA-Bürgerrechte", die schwierigsten “Heiligung der Arbeit und ökonomische Freiheit". Hier dominiert eine einseitige calvinistische Sicht, die weder von der katholischen Soziallehre noch von Johannes Kleinhappls christlicher Kapitalismuskritik gehört hat.
Recht unbestimmt wird die Darstellung des christlichen Einflusses auf die Kunst. Eine systematischere Sicht würde aber den Rahmen des Buches sprengen. Für Kirchenbau, Malerei, sakrale Musik, Kirchenlied und Literatur wird eine Auswahl bekannter und weniger bekannter Großer geboten - trotz mancher Vereinnahmung und Einseitigkeit auch hier letztlich überzeugend.
Das Buch schließt mit der Erklärung von Feiertagen, Begriffen und Symbolen, die der säkularen Kultur heute selbstverständlich sind - ein zweischneidiges Argumentarium, weil es zugleich zeigt, wie museal manche christliche Traditionen geworden sind. Der Autor ermutigt: “Und dennoch sind die Evangelien die Basis unserer Kultur". Schade, daß sich die Bürger der Europäischen Union - nominell immerhin zu 78 % Christen - schämen, sich im Lissabon-Vertrag dazu zu bekennen. Umso mutiger sollten wir, Sie, liebe Leserin, Sie, lieber Leser, und ich es tun.
Helmut Hubeny
Wie das Christentum die Welt veränderte - Menschen, Gesellschaft, Politik, Kunst. Von Alvin J. Schmidt, Resch-Verlag 2009, Preis: 20 Euro.