Vor über 150 Jahren schrieb Sören Kierkegaard, das westliche bürgerliche Christentum lebe in einer “ungeheuerlichen Sinnestäuschung": Er sagt: “Wir sind nicht bloß keine Christen, nein, wir sind nicht einmal Heiden".
Die große Täuschung bestand für ihn darin, daß viele Menschen glauben, mit der Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche, zum Christentum, zu einem christlichen Land sei man schon ein Christ und dürfe sich auch als Christ verstehen.
Kierkegaard stand mit seiner Kritik nicht allein, man denke nur an Kardinal John Henry Newmann, an Pater Kentenich, Dostojewskji, Nietzsche und viele andere. Auch Benedikt XVI. - vor allem noch als Kardinal - hat sich wiederholt in diesem Sinne geäußert. In Salz der Erde sagt er wortwörtlich: “Es muß ein Bewußtsein dessen entstehen, daß wir tatsächlich das Christentum weitgehend gar nicht mehr kennen. Es muß sozusagen wieder eine Neugierde nach dem Christentum entstehen, der Wunsch, wirklich zu erkennen, was da eigentlich ist." Eine Antwort darauf gab der Papst dann mit seinem herausragenden Jesusbuch: Jesus von Nazareth.
Aber machen wir uns nichts vor: Es sind nicht einfach die “anderen", die heute in einer solchen Sinnestäuschung leben. Nein, viele, sehr viele Christen, die sich als gläubige katholische Christen verstehen, gehören heute dazu. Die Fragen: Wer ist Jesus Christus? Warum ist Er Mensch geworden? Warum stieg er freiwillig ans Kreuz? Was geschah an Ostern? Was wirkt der Geist des Herrn im Menschen und in Seiner Kirche? - auf solche zentralen Fragen bekommt man heute selbst in gläubigen Kreisen oft nur ganz verschwommene Antworten. Darum ist auch das Leben so vieler Christen ohne Zeugnis und Ausstrahlung.
Es war kein Zufall, sondern ein Geschenk des Heiligen Geistes, daß Papst Benedikt XVI. - selbst ein Völkerapostel - das Paulusjahr proklamiert hat: Kein Christ kann uns wie Paulus exemplarischer die Frage “Wer ist Jesus Christus für mein Leben und für die Welt?" beantworten als Paulus. Nicht, weil Paulus uns - den Heiden - als grandioser Theologe die Botschaft Christi, dessen Tod am Kreuz und Auferstehung erschlossen hat, sondern weil Paulus dieses absolut göttliche und unfaßbare Mysterium am eigenen Leib erfahren hat.
Er hat es erlebt. Er hat es gelebt und ein äußerst strapaziertes Leben lang durchgehalten. Er selbst, als ein Sünder, hat die grundlose Barmherzigkeit Gottes erfahren. Paulus verkündet also nicht in erster Linie das, was er gehört hat, sondern was er am eigenen Leib - mit seiner ganzen Existenz - erlebt hat: die Person und den Gott Jesus Christus.
Ich halte es in unserer Zeit, in der das Geheimnis Christi auch in vielen frommen Menschen verblaßt, entartet und in den meisten verkümmert ist, für besonders dringend und notwendig, sich mit der ganzen Leidenschaft eines suchenden Herzens Paulus zuzuwenden: seinen Schriften und der Apostelgeschichte. Denn eine Hinwendung zu Paulus ist eine Hinwendung zum auferstandenen Christus.
Eine solche intensive Beschäftigung mit Paulus in seinen eigenen Briefen wird uns herauslösen aus der “ungeheuren Sinnestäuschung", von der Kierkegaard spricht. Solches Studium und das intensive Gebet um Erleuchtung könnten der Anfang sein für ein ganz neues Christ- und Kirche-Sein. Jedenfalls spricht Benedikt XVI. bei jeder Gelegenheit davon, daß wir katholischen Christen uns noch viel entschiedener als bisher der Heiligen Schrift zuwenden müssen als bisher. Das Paulusjahr darf darum mit dem 19. Juni 2009 nicht zu Ende sein, es muß erst richtig anfangen.
Schauen wir uns den heiligen Paulus näher an. Wer war er, dieser gewaltige Apostel, der 30 Jahre lang mit unermüdlichem Eifer und unter unvorstellbaren Strapazen den Mittelmeerraum bereist hat, um so viele Menschen wie möglich für die Erlösung durch Christus zu gewinnen?
Er hat dafür den Tod nicht gescheut, nicht Hunger und Durst auf seinen langen Wanderungen, nicht Überfall durch Räuber, nicht Kälte, Blöße, Spott und Verachtung, nicht Schmähung, Heimatlosigkeit, Einsamkeit, nicht Gefängnis, Schläge, Geißelung, Steinigung, nicht Unruhe und Schlaflosigkeit, nicht Kränkungen, nicht Schiffbruch, ja nicht einmal - was ihn am meisten geschmerzt hat - das unausrottbare Mißtrauen vieler gegen ihn, weil er kein richtiger Apostel sei. Und schließlich der nie verstummende und quälende Vorwurf seitens seiner Brüder, der Juden, er sei ein Verräter des wahren jüdischen Glaubens, was ihm schließlich den Martertod eingebracht hat!
Was für ein Freund des Herrn, was für ein Apostel!
Wir können das Geheimnis des Apostels Paulus in einem Satz ausdrücken: “Die Liebe Christi drängt uns", sagt er seinen Freunden (2Kor 5,14). Ich kann nicht anders, ich werde von einer mächtigen Kraft gedrängt. Es liegt ein Zwang auf mir. Es ist die herrliche Liebe des Auferstandenen, die ihn wie ein Blitz getroffen hatte, als er auf dem Weg nach Damaskus war, um die Jünger des Herrn zu verfolgen.
Dort geschah für Paulus der Durchbruch seines Lebens. Er sah den Himmel offen. Ja, er wurde von diesem Blitz gleichsam ins Paradies geschleudert. Paulus selbst schreibt einmal den Korinthern, er sei “bis in den dritten Himmel entrückt" worden, ja, bis ins Paradies hinein, und daß er “unsagbare Worte hörte, die ein Mensch nicht aussprechen kann." (vgl 2. Kor 12)
Hat Paulus vorher Christus verfolgt “mit Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn" (Apg 9), gilt nun seine ganze Leidenschaft und Liebe dem auferstandenen Herrn und der Gewinnung vieler Menschen für diese barmherzige und rettende Liebe.
Verweilen wir etwas an dieser Stelle, um tiefer zu schauen. Halten wir uns folgendes vor Augen: Paulus war mitschuld am Tod des Stephanus und wahrscheinlich weiterer Frauen und Männer. Er versuchte die Kirche zu vernichten. “Er drang in die Häuser ein, schleppte Männer und Frauen fort und lieferte sie ins Gefängnis ein." (Apg 8) Wir wissen nicht, wieviele wegen Paulus ausgepeitscht, gesteinigt, mißhandelt und umgebracht worden sind. Wir wissen nicht, wieviele Frauen zu Witwen und wieviele Kinder wegen dieses Fanatikers zu Waisen gemacht worden sind. Auf jeden Fall: Diese Schuld wird ungeheuerlich auf der Seele des Paulus gelastet haben.
Stellen Sie sich das lebendig vor: Schuld sein am Leiden und am Tod von Menschen, am Weinen vieler Kinder, die keinen Vater mehr haben! Schuld am Schmerz, an der Not vieler Frauen, die zu Witwen gemacht wurden. Auch wenn Paulus die Schuld von Christus vergeben wurde: Solche Schuld reißt tiefste, bleibende Abgründe in die Seele, Abgründe, die ein Leben lang schmerzen und brennen - und heilsam schmerzen sollen.
Hier ist der Ort, von dem aus wir Paulus und seine leidenschaftliche Liebe zum Herrn, der für ihn am Kreuz sein Leben hingegeben hat, besser verstehen können: Wo große Schuld vergeben wurde, ist große Liebe und großes Erbarmen. Die Abgründe solcher Schuld im Leben eines Menschen sind nach Umkehr und Vergebung nicht einfach zugedeckt, geheilt, als wäre nichts gewesen. Nein, diese Abgründe bleiben bestehen, damit der Sünder immer wieder - mit dem neuen und begnadeten Blick des von Gottes Liebe Erlösten - in sie hinabschaut und sich an die Erbarmungen des Herrn erinnert. (Genauso sollen auch wir mit unserer eigenen begangenen und vergebenen Schuld umgehen!)
Solche Menschen erfahren die Barmherzigkeit Gottes in einer Weise, die wir kaum erahnen können. Darum werden sie - wie eben Paulus - zu den glühendsten Aposteln der Barmherzigkeit Gottes und zu den authentischsten Zeugen des Geheimnisses der Erlösung durch Jesus Christus. Denn kein Apostel hat Gottes Barmherzigkeit in einer so radikalen und umfassenden Weise verkündet und bezeugt wie Paulus.
Dieses Wissen um seine Schuld hat Paulus ein Leben lang wie ein “Schatten der Gnade" verfolgt. Doch die Erinnerung an sie hat ihn nicht niedergedrückt, nicht entmutigt, im Gegenteil: sie hat ihn im Lichte der Gnade mächtig aufgerichtet zu einem neuen, erlösten und zu einem apostolisch ungemein fruchtbaren Leben in Christus. Paulus scheut sich nicht, sich als Vorbild hinzustellen für alle. Er schreibt:
“Das ist ein Grundsatz, den alle annehmen sollten: Jesus Christus ist in die Welt gekommen, um die Gottlosen zu retten, mich zuallererst. Daß Gott sich meiner erbarmt hat, sollte dazu dienen, daß Jesus Christus zuerst an mir all seine Langmut beweisen konnte. So wollte Er für alle ein Vorbild schaffen, damit sie künftig an Ihn glauben und so das ewige Leben erlangen können." (1 Tim 1,15-16; Übersetzt v. Klaus Berger u. Christiane Nord).
Paulus hat die Schönheit dieser Gnade so tief erlebt, das Geheimnis Christi so schrecklich und wunderbar geschaut, daß er alles, was er sich als hochgebildeter und hochangesehener Pharisäer - heute wäre er Theologieprofessor - an Wissen, Erkenntnis und Erbauung angeeignet hatte, jetzt in einem völlig anderen Lichte sieht. Er schreibt im Philipperbrief 3,18:
“Was ich damals für einen Gewinn hielt, betrachte ich nun - angesichts Jesu Christi - als Strafe. Eigentlich halte ich im Vergleich dazu, welchen überragenden Wert es für mich hat, meinem Herrn Jesus Christus begegnet zu sein, alles andere für Strafe, ja geradezu für wertlosen Dreck, wenn ich nur Christus gewinnen und mich in ihm neu finden kann."
Seit Paulus haben Tausende und Abertausende Christus als ihren wunderbaren Retter, als den alles überragenden Sinn ihres Lebens, ja, als ihr ganzes Glück und ihr wahres herrliches Leben erfahren. Was ihnen vorher wichtig war: Prestige, Schönheit, Gesundheit, Karriere, akademische Titel, Reichtum, Bildung, Abstammung etc. - alles haben sie nachher als “wertlosen Dreck" erlebt wie Paulus. Denken Sie an Augustinus, Franz von Assisi, Charles de Foucauld und unzählige andere. Jeder Christ muß etwas von dieser Weltverachtung an sich haben und in sie hineinwachsen. Jeder sollte mit Paulus sagen können: “Ich will nichts kennen als Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten." (vgl 1 Kor 2,2)
Nichts außer Christus darf darum im Zentrum meines Lebens stehen. Alles muß in einem gehörigen Abstand zu diesem Zentrum bleiben. Ja, alles muß von diesem Zentrum aus seinen richtigen Ort in meinem Leben finden. Ein Christ muß mit Paulus sagen können. “Ich lebe im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat" (Gal 2,20). Für mich!
Also muß Jesus Christus wieder das einzige glühende und schöpferische Lebenszentrum meiner ganzen Existenz werden. Denn ohne Ihn hat das Leben keinen tragenden Sinn, keine Zukunft, keine Perspektive, die über dieses kurze, oft so leidvolle Erdenleben hinausweist und -trägt. Wenn Christus nur am Rande meines Lebens vorkommt, wenn Er mir bloß als religiöses und vielleicht sogar frommes Therapie-Wohlfühl-Angebot dient, bin ich in Gefahr, einer “ungeheuren Sinnestäuschung" zu erliegen, an meiner ewigen Berufung vorbeizutreiben und schließlich am Leben zu zerbrechen, wenn einmal die vielen kleinen Götzen in meinem Leben zerbröckeln und sich keiner mehr dafür interessiert, wer und was ich einmal war, an welcher Uni ich studiert und wieviele akademische Papiere in meinem Aktenschrank herumliegen, um verbrannt zu werden.
Nein! Christsein heißt: “Christus ist für mich das Leben, Sterben mein Gewinn" (Phil 1,21).