Europa verabschiedet sich erschreckend rasch von seinen christlichen Wurzeln. Frage: Haben wir Christen Konsequenzen aus dieser Tatsache gezogen? Leben wir nicht immer noch in der Meinung, wir bewegten uns in unserem Umfeld wie die Fische im Wasser ?
Oberflächlich betrachtet, trägt manches zu dieser Täuschung bei: Unsere Bischöfe genießen öffentliches Ansehen, an den Schulen hat der Religionsunterricht seinen Platz, die Kirchensteuer sorgt für ausreichende Mittel, um Kirchen zu renovieren und einen beachtlichen Mitarbeiterstab zu finanzieren, zu Weihnachten sind die Kirchen voll, die freiwillige Feuerwehr feiert jährlich eine Feldmesse... Also nur nicht übertreiben, kein Pessimismus, bitte!
Stimmt. Es geht hier auch nicht um Schwarzmalerei, sondern um die Frage, wie kommt man als Christ in einem Umfeld zurecht, in dem uns in vielen Bereichen, die unsere Lebensgestaltung und geistige Orientierung betreffen, der Wind einigermaßen rauh ins Gesicht bläst?
In jeder Heiligen Messe betet der Priester: „Bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers, Jesus Christus, erwarten.“ Bemerkenswert an dieser Bitte ist das Nebeneinander von Verwirrung und Sünde. Sünde, ja, das leuchtet jedem Christen ein. Aber wie steht es mit der Verwirrung? Ist sie auch so gefährlich? Durchaus, weil sie den Weg für die Sünde, die Abkehr von Gott freimacht.
Ich bin überzeugt, daß diese Bitte heute von besonderer Aktualität ist. Die stets anwachsende Fülle von Botschaften aus unterschiedlichen geistigen Quellen, die von allen Seiten auf uns einprasseln - im Fernsehen, im Internet, in der U-Bahn-Zeitung, über das Handy... -, kann sehr zur Verwirrung beitragen.
Die Unterscheidung der Geister ist daher eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Aber wie unterscheidet man die Geister? Indem man sich bemüht, hellwach zu sein, nicht einfach im breiten Meinungsstrom mitzuschwimmen. Das erfordert Wachsamkeit bei der Auswahl der Informationsquellen, auf die ich mich stütze.
Es erfordert weiters den Einsatz des gesunden Hausverstandes. Wieviele heutige Dogmen sind leicht als Unsinn zu entlarven, wenn man auch nur ein bißchen seinen Verstand einsetzt: daß Staaten sich nicht folgenlos Jahr für Jahr verschulden können, daß homosexuelle Betätigung keine menschenwürdige Form der Begegnung ist, daß Kinder nicht besser im Hort als bei der Mutter aufwachsen…
Vor allem aber erfordert die Unterscheidung der Geister eine lebendige Gottesbeziehung, nicht nur ein Wissen um die Existenz Gottes, sondern ein Leben in Seiner Gegenwart. Wer von Gott erfüllt ist, tappt nicht in die Fallen des Widersachers.
Wir müssen uns in Erinnerung rufen: Unser Glaube ist nicht eine Religion wie die anderen und wir halten uns nicht nur an eine Sammlung guter Lebensregeln. Unsere Kirchen sind nicht nur Räume, die Gemeinschaftsbildung ermöglichen, Orte, an denen man feierlich Feste (Taufe, Hochzeit, Bestattung...) feiern kann. Das Christentum beschränkt sich nicht darauf, ein großartiges Gedankengebäude mit Antworten auf wichtige Fragen anzubieten. Ja, all das ist der Glaube auch, aber dessen Kern ist damit nicht erfaßt. Denn wer glaubt, schenkt Gott sein Herz. Er tritt in lebendigen Kontakt mit dem, der alles ins Dasein gerufen hat, der alles in Seinen Händen hält, der uns am Kreuz aus der Gottlosigkeit herausgeholt und in Seine Nähe gerufen hat - der aus eigenem Antrieb mit uns sein will.
Bei Markus lesen wir über die Berufung der Jünger: „Jesus ... rief zu sich, die er erwählt hatte, und sie kamen zu ihm. Und er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte...“ Jesus hat auch uns erwählt, weil Er uns bei sich haben will. Gott will in unserer Nähe sein, im lebendigen Austausch mit uns! Er hat uns nicht nur allgemeine Anweisungen für Wohlverhalten gegeben, sondern Er will unser Leben in die Hand nehmen.
In seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ schreibt Papst Benedikt XVI.: „Jeder findet sein Glück, indem er in den Plan einwilligt, den Gott für ihn hat, um ihn vollkommen zu verwirklichen: In diesem Plan findet er nämlich seine Wahrheit, und indem er dieser Wahrheit zustimmt, wird er frei.“
Jeder, sagt der Papst. Für jeden hat Gott einen besonderen Plan. Und nur dieser Plan bringt unser Leben zur vollen Entfaltung. In ihm finden wir zu uns selbst - und werden frei! Nur - wer kennt schon den Plan Gottes für sein Leben? Und wie erkennt man ihn? Indem ich wachsam für den Anruf des Herrn werde, Ihm Raum gebe, zu mir zu sprechen.
Keine einfache Sache, werden viele aus eigener Erfahrung antworten. Ich würde ja gerne hören, aber spricht Gott mit mir?
Das Hören auf Gott erfordert helle Wachsamkeit. Die meisten Menschen heute sind darauf nicht eingestellt, ja kaum dazu fähig. Wir sind viel zu sehr in eigene Pläne eingesponnen, mit Aufgaben überladen, abgelenkt von den vielen Angeboten, die es zu nutzen gilt. Und wir sind an laute Botschaften gewöhnt, während Gott leise in unserem Inneren spricht.
Wieviel innere Unruhe treibt mich umher! Am deutlichsten spüre ich das, wenn ich mir - meist zu wenig - Zeit für die Anbetung nehme. Da kreisen die Gedanken nur so im Kopf, innerlich schaue ich schon auf die Uhr, weil noch so viel „Wichtiges“ zu erledigen wäre… In dieses Tohuwabohu kann Gott nur schwer sprechen. So kann ich nicht wirklich Gottes Plan für mein Leben, also zunächst für den kommenden Tag entdecken. So verkommt die Gebetsbitte „Dein Wille geschehe“ nur allzu leicht zur Floskel.
Und dennoch: Gott ruft uns. Er ruft uns wie den jungen Samuel (1Sam 3,1ff). Und wenn wir Ihn nicht beim ersten Mal erkennen, ruft Er ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal. „Rede, denn dein Diener hört“ - jetzt kann Gott dem Samuel Seinen Plan für dessen Leben offenbaren. Wir müssen also hören lernen.
Wir stehen vor der Herausforderung, wachsam zu werden, um den Anruf Gottes zu hören, offen zu werden für das Wirken des Heiligen Geistes, wie wir es von den ersten Christen in der Apostelgeschichte lesen, von Petrus, Johannes, Stephanus. Paulus… Je widriger das Umfeld, umso fester müssen wir die Hand Gottes erfassen, um von Ihm geführt zu werden. Wie oft wird uns im Alten Testament erzählt, daß Gott die Sache Seines Volkes in die Hand nimmt. Diese Erzählungen sind doch keine Märchen!
„Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallt“ (Mk 14,38) mahnt Christus Seine Jünger in den dramatischen Stunden vor Seinem Tod. Je größer die Herausforderungen, umso dringender die Wachsamkeit, um dem Versucher nicht zu erliegen. Vor ihm schützt allein die Offenheit für Gott.
„Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem wer ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir“ (Offb 3,20): ein weiterer Appell, auf die Stimme des Herrn zu hören, ganz konkret, damit Jesus auch wirklich eintreten kann.
Hellhörig sollten wir aber auch unseren ganz gewöhnlichen Alltag verbringen. Denn Gott spricht zu uns auch durch die Ereignisse des täglichen Lebens, durch andere Menschen, durch Ereignisse, durch Intuitionen… Nichts ist auf diese Weise im Leben des Christen belanglos, weiß er sich doch jederzeit von Gott begleitet.
Seien wir also wachsam, hören wir auf die Stimme dessen, der uns zugesagt hat: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ (Mt 28,20). Wie konkret Jesus dann Menschen, die auf Ihn hören, auch in unseren Tagen führen kann, zeigt das Geschehen rund um den Transport von einer Million Bibeln in das kommunistische China (S. 12-13).
Christof Gaspari