VISION 20002/2008
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Du sollst auch dich lieben!

Artikel drucken Für ein gesundes Selbstwertgefühl

Warum bleibt vielen die Erfahrung, daß sie kostbar sind, verschlossen? Weil sie in ihrer Kindheit nicht erfahren durften, daß sie geliebt, also wertvoll sind, meint der Autor des folgenden Beitrags.

Komplimente waren mir immer unangenehm. Wenn jemand sich für mich interessierte, dachte ich stets, er habe sich in der Person geirrt," so Armelle, 42 Jahre alt, mit Tränen in den Augen. “Ich bin unfähig, mich liebenswert zu finden. Mein Vater hat mich nie ermutigt. Da hieß es: Äußere ich Ärger, hast du was falsch gemacht. Sage ich nichts, war es ok.

Eine Karikatur? Keineswegs. Dazu ein Religionslehrer: “Oft frage ich die Achtjährigen: Wer unter euch meint, gute Eigenschaften zu besitzen? Dann zeigt nur knapp die halbe Klasse auf.

Woher kommt diese weitverbreitete Geringschätzung der eigenen Person, diese Selbstverachtung, die sich oft fälschlich das Mäntelchen der Demut umhängt?

(...)Dieses Gefühl könnte nicht solche Blüten treiben, wenn es nicht, wie so oft, Wurzeln in der Erziehung hätte und wenn es nicht durch Schule und Gesellschaft verstärkt würde. Zwar gibt es wenige ungeliebte Kinder, dafür aber umso mehr falsch geliebte. Wer aber falsch geliebt wurde, tut sich später schwer zu lieben.

“Als Kind träumte ich oft, jemand anderer zu sein. Was ich war und was ich hatte, das mochte ich nicht. Ich hatte immer den Eindruck, die anderen Kinder seien besser: schöner, begabter, beliebter bei Mitschülern und Lehrer..." So erzählt eine junge Frau von ihrer traurigen Kindheit, der Pubertät voller Komplexe, ihrem wertlosen Leben voller Ängste und Mißerfolge. Der Psychotherapeut, der ihr zuhörte, Christophe André, hat 1999 zusammen mit François Lelord ein Buch veröffentlicht (L'estime de soi), dessen Erfolg zeigt, wie sehr die beiden einen wunden Punkt treffen. In der Einleitung erzählt André von diesem Beratungsgespräch.

Hier seine Schlußfolgerung: “Diese Frau litt nicht an einer Depression, im Sinn einer depressiven Erkrankung. Aber war sie deshalb weniger schlimm dran? Ich bin mir da nicht sicher. Ihr Leiden sitzt meiner Meinung nach viel tiefer, es ist eng mit ihrer Geschichte verwoben , bis in die tiefsten Wurzeln ihres Daseins... Hübsch, intelligent, hatte sie alle Voraussetzungen, um glücklich zu sein. Es fehlte nur eines: ein wenig Selbstwertgefühl."

Für viele Christen kommt hinzu, daß diese Selbstabwertung, sobald sie sich eingestellt hat, im Wort Gottes seine Bestätigung zu finden scheint. Sagte Jesus nicht, man müsse sogar das eigene Leben hassen, um sein Jünger zu sein? (Lk 14,26 und Mk 8,34)

Und dabei ist, sich selbst zu lieben, nicht nur eine Option, die man wählen kann. Es ist ein Gebot Gottes. Der hl. Bernhard wurde nicht müde, dem Papst, dessen Berater er war, zu sagen: “Nimm dich der anderen an, aber vergiß dich selbst nicht gänzlich."

Ein Gebot also, ja eine Notwendigkeit - zunächst aus psychologischen Gründen. Eine ausgeglichene, glückliche Persönlichkeit braucht das Fundament der Selbstwertschätzung, das die bedingungslose Liebe der Eltern errichtet. “Das Kind ernährt sich richtiggehend von der elterlichen Liebe," sagen die Autoren. “Lieben zu wollen allein, das genügt nicht. Das Kind spürt es sofort. Selbst wenn kein offensichtliches größeres Leiden, keine irreparablen Schäden auftreten, so wird es von sich aus dort, wo es am angemessenen Verhalten mangelt, die entsprechende Folgerung ziehen: Man liebt mich, aber ich bin es nicht wert, Vorrang vor den anderen Beschäftigungen meiner Eltern zu haben. Sein Selbstwertgefühl wird daher - zum großen Erstaunen der Eltern, die ja meinen, ihren Kindern alles geboten zu haben - nur mittelmäßig sein."

Einige Ratschläge der beiden Psychiater an die Eltern, die Kindern ein weder zu schwaches, noch überzogenes Selbstwertgefühl vermitteln wollen: Zeit mit jedem Kind einzeln verbringen; ihm regelmäßig zuhören, es von seiner Lebenswelt erzählen lassen; Interesse für das zeigen, was das Kind bewegt; gemeinsam etwas unternehmen; ihm das Gefühl geben, es sei einmalig; es nicht mit anderen vergleichen; das eigene Verhalten in Einklang mit den Forderungen der Erziehung setzen; ihm beizubringen - indem man es selbst tut - über sich selbst lachen zu können. Kurz, das Vorbild ist immer die beste Form der Pädagogik. (...)

Die Selbstwertschätzung wurzelt auch in der Moral. Wir lieben zunächst, was uns ähnlich ist, womit wir in Kommunion eintreten können. Mit uns selbst aber sind wir enger verbunden als mit sonst jemand. Wir sind unser nächster Nächster. Daher sind wir aufgerufen, uns nicht nur zu mögen, sondern uns mehr als andere zu lieben - außer Gott, denn Er ist - nach einem Wort des Augustinus - uns innerlicher, als wir selbst es sind.

Das Gebot, sich selbst zu lieben, ist also kein Trick für Leute, denen es an Zuneigung mangelt, es ist die eigentliche Voraussetzung, um andere zu lieben. Sich an andere verschenken, weil man vor sich selbst flieht, bedeutet doch, nur seinen Schatten anzubieten: Wer wollte von jemandem geliebt werden, der sich selbst haßt? Nichts darf also Vorrang vor der erstrangigen Aufgabe haben, am eigenen Heil, der eigenen Heiligkeit zu arbeiten. (...)

Man kann drei Arten der Selbstliebe unterscheiden. Sie sind wie die Stufen einer Stiege. Da ist zunächst die Liebe zum anderen um seiner selbst willen. Das ist der kindliche Egoismus. Auch wenn dieser zu großzügigen Taten befähigt, dreht sich beim Kind doch alles um den eigenen Nabel. “Ein Egoist ist, wer nicht an mich denkt," so das Motto. Dann gibt es die Selbstliebe um seiner selbst willen. Das ist die Zeit, die man zur Entwicklung des Selbstwerts braucht. In der Adoleszenz lernt man sein eigener Freund zu werden - auch wenn dieser Lernvorgang schon früher beginnt.

Schließlich gibt es die Eigenliebe, um der anderen willen, das eigentliche Entwicklungsziel. Man entscheidet sich dafür, sein Glück in der Hingabe an den anderen zu suchen: das Kennzeichen des Erwachsenseins. Dorthin gelangt man aber nicht, wenn man die Phase der Selbstliebe überspringt. Es gibt keinen wirklichen Altruismus ohne die Selbstwertschätzung, aus der heraus sich die rechte Nächstenliebe entfaltet.

Aus dieser Sicht sind auch die Evangelienworte über Selbstverleugnung zu deuten: Sie setzen voraus, daß wir uns selbst schätzen. Jesus hat uns das vorgelebt.

Pascal Ide & Luc Adrian, Auszug aus “Famille Chrétienne" v. 20.8.00

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