Am 4. März las man in der Zeitung: Eine 36jährige Frau wird vom Lebensgefährten schwanger. Man schickt sie ins Spital zur Untersuchung. Dort wird die Erkrankung des ungeborenen Kindes, eines mittlerweile sechsjährigen aufgeweckten Buben, nicht erkannt...
Dieser leidet an Meningomyelozele (MMC), einem Defekt an der Wirbelsäule. Er hat einen Wasserkopf und Klumpfüße. Zweifellos ein starke Belastung.
Nun aber hat Österreichs Oberster Gerichtshof (OGH) den Eltern den vollen Ersatz für den Unterhalt des Kindes und die Kosten, die durch die Behinderung anfallen, zugesprochen, etwa 200.000 Euro für die ersten vier Lebensjahre. Der Anspruch besteht für den Rest des Lebens. Über die Begründung schreibt Die Presse: “Wäre die MMC erkannt worden, hätten die Eltern über die zu erwartende Behinderung aufgeklärt werden müssen. Und aus damaliger Sicht hätten sie die Schwangerschaft abbrechen lassen - was sie hätten tun dürfen..."
Einfach so: die “Schwangerschaft abbrechen" - ganz legal. Klingt harmlos, heißt aber: Eltern haben Anspruch auf Tötung des ungeborenen Kindes. Und weil das Spital die nötige Information zur Wahrung des “Anspruchs" vorenthalten hat, muß es ein Leben lang für den durch Geburt entstandenen “Schaden" aufkommen! Man lasse das auf sich wirken: Der Mensch als Schaden - offiziell vom Höchstgericht der Republik dekretiert.
Warum ich das so ausführlich behandle? Weil es ins Zentrum des Themas führt. Das OGH-Urteil ist Ausdruck des Ungeists, der heute regiert, der dem Menschen seinen einmaligen Wert aberkennt. Nun mag man einwenden: Immerhin waren die ersten vier Lebensjahre des Kindes 200.000 Euro wert. Genau das ist aber der Skandal: Diese Summe wird ja nur fällig, weil das Kind lebt. Hätte man es rechtzeitig umgebracht, hätte kein Hahn nach diesem in den Augen Gottes einmaligen, liebenswerten Geschöpf gekräht.
Und was wird sich der Bub denken, wenn er später den Inhalt des Urteils begreift? Intelligent ist er ja. Glauben Sie, liebe Leser, er wird sich sagen: Toll, jährlich bekomme ich 50.000 Euro? Werden ihm nicht eher Gedanken kommen wie: Ich habe es schwarz auf weiß: Mein Leben ist eine Last. Eigentlich hätte ich umgebracht werden müssen.
Das OGH-Urteil offenbart den Ungeist, der unsere Zeit prägt. Trotz allen Geredes von Menschenrechten spricht dieser Geist, - es ist der Geist des Widersachers - dem Menschen die unbedingte Lebensberechtigung, seine unaufrechenbare Kostbarkeit ab. Auf diese Weise verkommt der Mensch zur Rechengröße in einem Kosten-Nutzen-Kalkül.
Das steht vielfach auch hinter dem Slogan vom Wunschkind. Klingt gut: Kinder sollen erwünscht sein. Schön. Weil wir aber über die nötigen Mittel verfügen, Kinder auf die Welt kommen zu lassen oder nicht, wird das Wort vom Wunschkind zu: “Kinder nur dann, wenn erwünscht", also in den Lebensentwurf der Eltern passen. Diese entscheiden: ob ein Kind, wann ein Kind - und wie ein Kind: heute schon ob Bub oder Mädchen (man denke an die Unzahl abgetriebener Mädchen in Asien) und bald schon wird man nach anderen Kriterien auswählen - und wegwerfen. Ob da bei kommenden Generationen das Bewußtsein noch aufkommt: Ich bin einmalig und geliebt, so wie ich bin, ein Geschenk Gottes an meine Eltern, ja an die ganze Menschheit?
Diese Vorstellung wird auch keineswegs durch andere Spielregeln, die unsere Zeit bestimmen, gefördert. Ich denke an die Dominanz des wirtschaftlichen Denkens in der Gestaltung der Welt. Auch hier: Vorrang für die Nützlichkeit. Zahlt es sich aus, diesen Mitarbeiter zu beschäftigen, da wir jetzt weniger Aufträge haben? Ausgeklügelte Kostenrechnungen bewerten jede Tätigkeit. In weit entfernten Unternehmenszentralen werden in Zahlen ausgedrückte Ziele vorgegeben. Der Rechenstift wird angesetzt, Posten zu Tausenden gestrichen, ganze Betriebe von heute auf morgen in andere Länder verlegt. Kann da der einzelne erkennen, daß er in seinem Beruf einen wertvollen Beitrag an einem gemeinsamen Werk leistet? Wird er nicht zum Wegwerf-Mitarbeiter?
Schwerwiegend sind auch die Folgen enes weiteren Prinzips, dem der Konkurrenz: Der Intelligentere, Stärkere, Schnellere soll sich durchsetzen, das bringe uns voran, sei gut für alle. So lehrt es ja auch der dogmatische Evolutionismus. Es führt dazu, daß weite Lebensbereiche zum Wettrennen im Überlebenskampf werden. Wie sich dieses Denken auf Führungskräfte auswirkt, haben schon vor 20 Jahren Befragungen gezeigt: “Was im Kommen ist, ist eine stärkere Ich-Zentrierung und innerhalb dieser Ich-Zentrierung noch einmal eine eingeengte Aufmerksamkeit auf Erfolg, Güter und Genuß..." (Kaufmann, Kerber, Zulehner: “Ethos und Religion bei Führungskräften")
Zugegeben, ich überzeichne etwas, aber die Richtung der Entwicklung ist schon getroffen: ein weltweites Wettrennen um wirtschaftlichen Erfolg, fast möchte man ihn als Überlebenskampf bezeichnen, ist im Gange. Die Öffnung der Märkte führt zu unüberschaubarer internationaler Verflechtung. Weltweit hängt alles mit allem zusammen. Wenn in den USA die Immobilienmärkte einbrechen, schreiben europäische Banken Milliardenverluste, müssen den Gürtel enger schnallen und um Finanzspritzen betteln, die wir alle finanzieren... Hilflos schaut der kleine Mann dem Geschehen in der undurchschaubaren Maschinerie zu und fühlt sich als Rädchen in einem anonymen Getriebe. Alles kein guter Nährboden für die Erfahrung der eigenen Bedeutsamkeit.
Sie wird auch im Zusammenleben zunehmend in Frage gestellt - ein letzter Punkt, den ich erwähnen möchte. “Partnerschaften" übernehmen nun den Platz der Ehe. Was ist deren Kennzeichen? Daß sich zwei zusammentun, die aneinander Gefallen finden. Wunderbar, denkt man. Nun lebt aber eine Partnerschaft klarerweise davon, daß die Interessen der Partner übereinstimmen, daß das Gefallen am anderen also fortbesteht. Kein krisenfestes Konzept, wie jeder weiß. Und dementsprechend leicht gehen diese “Partnerschaften" auch auseinander, wie Untersuchungen und auch die private Erfahrung zeigen. Statt dem lebenslangen Ehe- der Wegwerf-Partner.
Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Sie folgt dem Prinzip der Nützlichkeit. Und hat dieses auf zwischenmenschliche Beziehungen ausgedehnt. So kennen wir nicht nur in Europa heute das Wegwerf-Kind, den Wegwerf-Mitarbeiter, den Wegwerf-Partner - und einige Länder haben durch Euthanasiegesetze das Modell der Wegwerf-Eltern eingeführt. Zuletzt ist Luxemburg auf diesen Weg eingeschwenkt.
In diesem geistigen Umfeld leben wir Christen und stehen vor der Alternative, von dieser Kultur des Todes mitgerissen zu werden oder gegen sie anzuschwimmen. Vor dieser Alternative steht die Menschheit allerdings seit jeher, wenn auch heute besonders deutlich: “Leben und Tod lege ich dir vor, Segen und Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen. Liebe den Herrn, deinen Gott, hör auf seine Stimme, und halte dich an ihm fest; denn er ist dein Leben." (Dt 30, 19f) Darauf macht der Herr Sein Volk schon vor Jahrtausenden aufmersam.
Eine Entscheidung auf Leben und Tod also, eine Entscheidung für Gott, der allein Garant des Lebens ist - oder gegen Ihn. Und zwar konkret: Gott zu lieben, eine persönliche Beziehung, d.h. eine Liebesbeziehung, mit Ihm einzugehen. Sein Angebot steht seit jeher fest: “Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht. Sieh her: Ich habe dich eingezeichnet in meine Hände," sagt der Herr durch den Propheten. (Jes 49,15f)
Und: “Herr, du hast mich erforscht und du kennst mich. Ob ich sitze oder stehe, du weißt von mir. Von fern erkennst du meine Gedanken. Ob ich gehe oder ruhe, es ist dir bekannt; du bist vertraut mit all meinen Wegen. Noch liegt mir das Wort nicht auf der Zunge - du Herr, kennst es bereits. Du umschließt mich von allen Seiten und legst deine Hand auf mich," stellt der Psalmist beglückt fest. (Ps 139, 1ff)
Kein Mensch ist von diesen Verheißungen ausgenommen. In ihnen wird der tiefste Grund für die Kostbarkeit jedes einzelnen freigelegt. Woran es mangelt, ist der Glaube, daran, daß diese Worte für Dich gesagt wurden, damit Du an Deine Kostbarkeit glaubst - auch wenn viele Erfahrungen in Deinem Leben dagegen zu sprechen scheinen. Ist das nicht unser Hauptproblem: daß wir ganz tief im Inneren an Gottes Liebe zweifeln? Unter dem Motto: ja schon, aber... Ich weiß, wovon ich rede.
“Laßt euch mit Gott versöhnen!" (2Kor 5,20) ruft uns der Apostel Paulus zu. Ja, lassen wir uns die Augen öffnen: für die eigene Größe und für die Schönheit und Kostbarkeit unserer Mitmenschen. Dann werden wir leben - und voll Staunen Gottes wunderbares Wirken mitten in der Finsternis unserer Tage entdecken.
Christof Gaspari