Vom Leben Verletzte, Trauernde, Gescheiterte, Einsame berät Tugdual Derville und versucht, ihnen zu helfen. In Rom berichtete er von seinen Erfahrungen bei der Betreuung von Frauen, die eine Abtreibung hinter sich haben.
Wenn ich von Frankreich im Jahr 2008 rede, kann ich sagen: “Ich sehe, wie ein großes Elend mein Volk erdrückt!" Hinter den nackten Statistiken erkenne ich mit Entsetzen, was es bedeutet, daß 40% der Französinnen - so jedenfalls die offiziellen Zahlen des “Institut Nation d'etudes Démographiques" - sich während der fruchtbaren Zeit ihres Lebens zumindest einer Abtreibung unterziehen. Die Geständnisse, die wir zumindest von einigen von ihnen (aber auch von ihren Männern, den Brüdern und Schwestern der abgetriebenen Kinder, der in Abtreibungen verwickelten Ärzte und Schwestern) hören, lassen uns das große Ausmaß dieses Elends erkennen.
Da habe ich schreckliche Sätze - oft waren es die gleichen - gehört, etwa: “Bei meiner Abtreibung bin ich selbst gestorben", “Ich verdiene nicht, Mutter zu sein", “Ich habe ein abscheuliches Verbrechen begangen". Diese von einem Tränenstrom begleiteten Verzweiflungsschreie bringen das Elend der trauernden Mütter, die sich selbst nicht ins Gesicht schauen können, zum Ausdruck. Oft sind sie in tiefen Schuldgefühlen gefangen, quasi verfolgt von einer Handlung, die sie zutiefst verletzt und manchmal in einen todesähnlichen Zustand versetzt hat.
Lassen sie mich Ihnen nur eines von hunderten Zeugnissen, die wir in letzter Zeit bekommen haben, zur Kenntnis bringen:
“Danke für Ihre Antwort. Es tat mir gut, mich verstanden zu fühlen. Ich tu' mein Bestes, gute Miene zu machen. Meine Kinder haben mich ohnedies schon lang genug weinen gesehen, ebenso mein Mann. Aber tief in mir ist alles schrecklich schwer. Jederzeit kann es hochkommen. Dieses Baby war mein Traum, der schönste, der herrlichste, der kostbarste. Und ich habe es zerstört, getötet, mein Baby, dieses kleine Wesen, das in mir war und das ich hätte schützen müssen. Nichts wird wieder wie früher sein. In mir ist etwas abgestorben - mit meinem Kind. Ein kleines Stück von mir ist mit ihm verloren gegangen. Ich habe meine Seele dem Teufel verkauft, mein Leben lang wird er mich quälen, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Jetzt muß ich damit leben lernen. Das Leben muß weitergehen. Damit muß ich zurechtkommen."
Viele Frauen leiden lange, ohne etwas zu sagen. Sie glauben nämlich nicht an die Möglichkeit, Trost nach einer Abtreibung finden zu können. Sie meinen, sie seien verflucht. Ergänzen muß man, daß diese Leidensäußerungen von Menschen unterschiedlichsten geistlichen Hintergrunds rühren: christlichen und nicht christlichen, gläubigen und ungläubigen. Jedenfalls handelt es sich nicht - wie manche behaupten - um die Folgen einer jüdische-christlichen Kultur, die Frauen Schuldgefühlen mache. Auch muß man klarstellen, daß nicht alle Frauen ihr Leiden so ausdrücken, wie ich es hier darstelle. Auch empfinden nicht alle dieses Leiden. Aber viele beginnen, es zu artikulieren. Sie sind keineswegs Randerscheinungen.
Oft bin ich richtig erstaunt, wie demütig diese gebrochenen Herzen sind, wie aufrichtig ihre Haltung, wie schön ihre Seele, wenn sie erfüllt von einer geheimnisvollen Erwartung ist. Wonach aber dürstet diese Person, die oberflächlich betrachtet gar “nicht getröstet werden will", die - wie sie oft sagt - sich das nicht vergeben kann, ja die nach dieser Todeshandlung gar nicht mehr neu zu leben vermag? Es ist Durst, getröstet zu werden, Vergebung und Leben zu finden. Ein Durst nach Barmherzigkeit.
Sollte ich die Haltung, die dieser schmerzlichen Situation am besten angemessen ist, in einem Wort zusammenfassen müssen, so wählte ich “Wohlwollen". In seinem Buch “Notre Dame de la Sagesse" wählt Maurice Zundel den etwas überholten Begriff “Güte": “Das Getriebe des Elends, in dem der Mensch zerrieben wird (...), dieses Scheitern des Lebens, wird vernichtet", so erklärt er, “wenn ein Strahl von Güte, ein einem menschlichen Antlitz den tiefen moralischen Sinn des Universums aufleuchten läßt."
Moral und Güte. Zwei Worte, die der Antichristianismus als unvereinbar erscheinen lassen will - obwohl sie durch die Barmherzigkeit verbunden sind. Gestatten Sie mir, eine etwas längere Passage von Zundel vorzulesen. In meinen Augen ist dieser Text ein wunderbares Werkzeug, wenn Christen das Zuhören erlernen wollen, das richtige Abstandhalten in Begegnungen, wie wir sie erleben:
“Der grenzenlose Respekt, den Sie seinem Geheimnis gegenüber bekunden, er ist es, in dem der Mensch sowohl die Größe seiner eigenen Seele erkennen kann wie die Größe dessen, der sie allein zu erfüllen vermag: Gott, den er schon in der absoluten Freiheit, die Ihr Blick ihm gewährt, vorausahnt, ohne Ihn noch nennen zu können.
In Ihrem Glaubensakt, der offen für alles ist, was der andere zu werden verspricht, jenseits all dessen, was er heute sein mag;
in der freudigen Anerkennung all dessen, was die Gnade Gottes in ihm wirken kann;
in Ihrem Wille, seine Existenz anzunehmen und in Ihrer Bereitschaft, die Einmaligkeit des Gleichgewichts, das der andere wiederherzustellen berufen ist, zu bejahen;
in Ihrer Weigerung, über den anderen zu urteilen und sein Gewissen zu beeinflussen - es sei denn, er läßt Sie darin eintreten;
schließlich in der Zurückhaltung, in der stillen Zuwendung zu all dem Unaussprechlichen, im Niederknien Ihrer Seele vor der seinen, wird der Mitmensch erfahren, wie sich vor ihm unendliche Räume eröffnen, in denen er die Luft seiner wahren Heimat atmet. Da kann er dann er selbst sein. Er läßt alle Masken fallen, er zeigt Ihnen das Gesicht seines ersten Lebenstages."
Wir sind also eingeladen, die Schönheit des Menschen, der sich in seiner Armseligkeit mitteilt, dankbar zu bestaunen. Ganz selbstverständlich fällt da unsere Seele in die Knie. “Auch ich verurteile dich nicht, geh und sündige nicht mehr", sagt Jesus.
Um Zeugen der Barmherzigkeit zu sein, müssen wir uns auf dem schmalen Grat bewegen, wo Liebe und Wahrheit einander umarmen. Nur so verrät man weder die Moral, noch die Güte. Der Ehebrecherin, der Samariterin oder auch Maria Magdalena wurde jeweils auf dieser Linie die Begegnung zuteil, durch den keuschen, zärtlichen und wohlwollenden Herrn.
Da wird deutlich, daß Barmherzigkeit keinerlei Rückendeckung für die Sünde gewährt, ganz im Gegenteil. “Du hast richtig gesagt: Ich habe keinen Mann. Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann." (Joh 4,17f) Rätselhaft für uns, daß so ein Satz Auslöser für die Bekehrung nicht nur dieser Frau ist, auf deren sexuelle Verfehlungen Jesus hinweist, sondern auch tausender anderer Samariter, die sie aufwiegeln wird. Wie können so einschneidende, ja im damaligen Kontext beleidigende Worte für die Freude öffnen? Seitdem ich weiß, daß der Ton in der Stimme und die Art des Blickes 80% der Wirkung in der Kommunikation ausmachen, traue ich mich den Schluß zu ziehen: Die Barmherzigkeit, dieser Strom lebendigen Wassers war herauszuhören, war Ihm anzusehen, er entsprang in dieser Begegnung jenseits der Worte. Die Barmherzigkeit ist Mittler der Wahrheit. (...)
Unser Nichtwissen um die Barmherzigkeit vergiftet unsere heidnisch gewordenen Gesellschaften ebenso heftig wie der verlorengegangene Respekt vor dem Leben. “Seht, es kommen Tage - Spruch Gottes, des Herrn - da schicke ich den Hunger ins Land, nicht den Hunger nach Brot, nicht Durst nach Wasser, sondern nach einem Wort des Herrn. Dann wanken die Menschen von Meer zu Meer, sie ziehen von Norden nach Osten, um das Wort des Herrn zu suchen; doch sie finden es nicht." (Am 8,11f) Diese Worte des Propheten Amos fallen mir oft ein, wenn ich Menschen begegne, die sich ganz ohne Orientierung durchs Leben schleppen, die keine Ahnung von der Religion des Lebens und der Barmherzigkeit, also dem Christentum haben. Unrecht und Härtefälle machen sich breit, wenn der soziale Rahmen dazu führt, daß man das Verbot zu töten, das doch in allen Herzen eingeschrieben ist, nicht mehr kennt. Die Familien leiden und brechen auseinander. Wo man aber die Barmherzigkeit nicht mehr kennt, da kapseln sich diese Prüfungen ein, verstärken und wiederholen sich.
Wie soll man all diesen Umherirrenden das Lebensgesetz, das die Tötung ablehnt, nahebringen? Es wäre falsch, dies als Rucksack voller Verbote, schwere zu vermittelnde Lasten, anzusehen, das Gefühl zu vermitteln, man lade den Leuten ein schweres Joch auf, das sie behindert und ihrer Entfaltung schadet. Genaugenommen ist das Tötungsverbot ein Gebot, das freimacht. Der Respekt vor dem Leben, so erklärte Johannes Paul II., sei sogar eine Voraussetzung für das Glück. Und, was die Fähigkeit zu vergeben und Vergebung anzunehmen, anbelangt: Sie ist das - allzu gut gehütete - Geheimnis der Liebe. Wer von ihm absieht, wird nur allzu oft von der Last der Verbitterung und der Schuldgefühle erdrückt.
“Tröstet, tröstet mein Volk!" (Jes 40,1) Der Sünder braucht Trost. (...)
Vertraut uns eine Frau an: “Ich habe ein entsetzliches Verbrechen begangen!", müßte man imstande sein, mit der sanften Güte Gottes die Frage zurückzustellen. “Sie haben ein schreckliches Verbrechen begangen?" Es bringt nichts, die Schwere des Vergehens, das sie eingesteht, zu leugnen. Wer dies aus Entsetzen über das Gesagte tut, kann damit die Person, die es nötig hat, in der Wahrheit ernstgenommen zu werden, verletzen. Es bringt auch nichts, das Gesagte aufzublasen. Unser Wohlwollen muß vollkommen sein. Vorsicht aber mit verräterischen Worten, die in der Meinung man müsse beruhigen, das Gewissen lähmen und die Gefahr heraufbeschwören, daß jemand der Angst des Fatalismus ausgeliefert wird. Einer Frau den Eindruck zu vermitteln, ihre Abtreibung sei unvermeidlich gewesen, ist das beste Mittel, sie zu zerstören. Heute erkennen langsam sogar schon Leute, die für das Recht auf Abtreibung eintreten, daß die Frauen es brauchen, nach einer solchen Handlung um Vergebung bitten zu können. (...)
Nur wo Barmherzigkeit gewährt und angenommen wird, können Schuldgefühle - sie ersticken den Menschen, so daß er nicht mehr zwischen sich und der Tat zu unterscheiden vermag - vermieden werden. Wer sich mit einer schweren Fehlhandlung identifiziert, macht aus ihr einen laufend wachsenden Klotz am Bein, der bis zum psychischen, geistigen, affektiven und physischen Tod führen kann.
“Ich bin eine mörderische Mutter!" Dieses Gefängnis der Schicksalhaftigkeit führt häufig zu wiederholten Abtreibungen. Da ist es dringend und ganz entscheidend, daß die Verkündigung der Barmherzigkeit vor Wiederholungen bewahrt. Die Barmherzigkeit macht es möglich, Tat und Person zu trennen. “So weit der Aufgang entfernt ist vom Untergang, so weit entfernt er die Schuld von uns." (Ps 103,12) Die Barmherzigkeit eröffnet die Möglichkeit, die Sünde zu erkennen, sie von sich zu weisen und sich von ihr zu befreien.
Tugdual Derville
Der Autor ist Generalsekretär von “Alliance pour les Droits de la Vie" (Allianz für das Lebensrecht) in Frankreich, sein Beitrag ein Auszug aus seinem Vortrag am 3. April in der Kirche San Carlo al Corso.