Wer die Burschen und Mädchen der Gemeinschaft Cenacolo sieht, kann es einfach nicht glauben, daß es sich da um Jugendliche handelt, die noch vor kurzem menschliche Ruinen waren. Sie sind Zeugen dafür, wie Gottes Gnade heute neues Leben spendet.
Wenn Jugendliche aus unserer Gemeinschaft aufgefordert werden, etwas zu sagen, beginnen sie immer über ihr Leben zu sprechen: ihren Weg von der Dunkelheit zum Licht. Und so möchte auch ich erzählen: von der Barmherzigkeit Gottes. Als mein Vater im Krieg zu den Waffen gerufen worden ist, lebten wir im Süden Italiens. Der Vater aber wurde nach Piemont im Norden des Landes eingezogen. Da beschloß er, uns - meine Mutter und die sieben Kinder - mitzunehmen. Das Leben war schwierig: wir hatten unter Hunger und Kälte zu leiden. Gott sei Dank hatten wir eine sehr tapfere Mutter.
Der Vater hat sich in seinem Verhalten geändert. Er war angespannt, nervös, hat oft Ohrfeigen ausgeteilt. Meine Brüder haben dann über meinen Vater geschimpft, sie haben sich für den Vater geschämt. Eines Tages habe ich ihnen dann gesagt: “Ihr ärgert Euch über ihn, seid enttäuscht - das hat damit zu tun, daß Ihr die Wunden, die er Euch zufügt, noch nicht als Geschenk Gottes angenommen habt."
Ich hatte damals schon begriffen, daß die Barmherzigkeit Gottes auch in den schweren Momenten unseres Lebens gegenwärtig war. Sie hat sich so geäußert, daß meine Eltern mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, sie mußten viele Demütigungen hinnehmen: Im Norden Italiens sind nämlich jene, die aus dem Süden kommen, nicht geschätzt - noch dazu wir mit den vielen Kindern. Wir waren richtig verstoßen im eigenen Land. Aber all das hat meine Eltern und uns stärker und demütiger gemacht.
Und aus dieser Erfahrung heraus kann ich jetzt den Jugendlichen, die zu uns kommen, sagen: “Ihr braucht Euch nicht Eurer Geschichte schämen. Denn diese Lebensgeschichte war immer schon von Gottes Barmherzigkeit getragen, von Seinen blutenden Wunden. Diese Wunden sind wie geöffnete Fenster, die uns Seine Barmherzigkeit zukommen lassen." Es geht also darum, im eigenen Leben ganz konkret aus der Barmherzigkeit Gottes zu leben. Das sollte soweit gehen, daß wir sagen können, wir hätten Gottes Barmherzigkeit in unser eigenes Fleisch aufgenommen.
So kann ich Zeugnis dafür geben, daß in all meinen Problemen, meinen Demütigungen, all meinen Schwächen Gott mit Seiner Barmherzigkeit gegenwärtig war und daß sie aus all dem Großes gemacht hat.
Heute bin ich mit Jugendlichen aus 58 Gemeinschaften, die wir in der ganzen Welt haben, hierhergekommen. Die Jugendlichen in diesen Gemeinschaften müssen mitbekommen, daß wir aus dem Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit leben. Diese jungen Leute waren vielfach gar nicht mehr menschlich, sie waren Ruinen. Wenn sie dann aber zu uns kommen, ist das erste, was sie lernen: auf die Knie zu fallen und zu beten. Unsere Kapellen haben keine Sitzbänke. Wir knien auf dem Boden vor dem Tag und Nacht ausgesetzten Herrn.
Und das ist der Nährboden unseres Glücks, dadurch haben wir alles - obwohl wir im Grunde genommen nichts selbst besitzen. Daher nehmen wir auch kein Geld von staatlichen Stellen, weil wir an die Liebe glauben, die uns mit allem versorgt, was wir brauchen. Wir leben allein von der Vorsehung. Und dementsprechend erleben wir diese Vorsehung auch Tag für Tag. Da haben sich etwa die Burschen in einer Gemeinschaft Pasta mit Tomaten-Sugo gewünscht. Aber es gab keine Paradeiser. Und siehe da: eine Viertelstunde vor der Essenszeit kommt eine Frau mit ihrem Mann und beide laden kistenweise bei uns die köstlichen Früchte ab.
In all den letzten 25 Jahren haben wir ähnliches erlebt. Wir leben aus der Vorsehung: Wenn etwas da ist - dann haben wir es eben. Und wenn es nicht da ist, naja, dann eben nicht. Dann gibt es die Reste trockenen Brotes und wir gehen eine halbe Stunde früher Fußball spielen. Aber im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit bleiben wir froh.
Und noch ein Wort: Wir müssen vergeben lernen. Unsere Jugendlichen sind vielfach sehr verletzt worden durch ihre Eltern, den Vater, die Mutter. Ihnen lege ich ans Herz zu vergeben. Keine Frage: Sie werden Fehler gemacht haben, aber vielleicht haben sie als Kinder noch mehr gelitten als wir. Daher haben wir den ersten Jugendlichen, die wieder heimgegangen sind, gesagt: “Wenn du jetzt nach Hause kommst und Du Deinen Vater siehst, dann lauf ihm entgegen. Und dann umarme ihn. Und während Du ihn umarmst, zähl bis sieben. Und Du wirst sehen: Dein Vater wird weinen, wir alle werden weinen. In diesem Augenblick gibst Du ihm die Würde seiner Vaterschaft zurück, wenn er Dich als Kind nicht beachtet, Dir unrecht getan hat."
Wer von der Liebe erfüllt ist, wird von der Liebe sprechen, sie weitergeben. Wir müssen menschlicher, Lebende der Liebe werden.
Sr. Elvira Petrozzi