VISION 20003/2008
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Du kannst ruhig Dein Leben in Gottes Hand legen

Artikel drucken Barmherzigkeit: ein Wort, das neu gedeutet werden muß

Barmherzigkeit - ist eigentlich kein Wort, das uns im Alltag häufig unterkommt. Es ist nicht einmal sicher, daß es in unsere Lebensart paßt. Wann haben Sie, liebe Leser, das letzte Mal von jemandem gesagt: “Also diese Person ist auffallend barmherzig" oder: “Das war jetzt wirklich barmherzig von Dir"? Klingt fast etwas altmodisch, jedenfalls nicht “up to date".

Führt das nicht auch zu einer gewissen Schwierigkeit, heute vom barmherzigen Gott zu sprechen? Wer in einem Gespräch erklärt, Gott sei grenzenlos barmherzig, der löst beim Gesprächspartner nicht unbedingt ein dankbares, erleichtertes Aufatmen aus. Vielmehr besteht die Gefahr, daß mein Gegenüber sich sogar etwas wehrt. Er wolle kein herablassendes Mitleid. Schließlich sei er ja mündig, tue kein Unrecht: “Ich habe keine silbernen Löffel gestohlen", “ich erfülle meine Pflichten", “ich bin niemandem etwas schuldig"...

Unser Leben ist sehr stark von einer bestimmten Sichtweise des menschlichen Zusammenlebens geprägt: Jeder hat bestimmte Rechte (Kinderrechte, Frauenrechte, Minderheitenrechte...) und jeder muß bestimmte Pflichten (Schulpflicht, Steuerpflicht, Wehrpflicht...) erfüllen. Das Räderwerk unserer Gesellschaft lebt vom Einhalten der Spielregeln, die den einzelnen in ein möglichst leistungsfähiges System integrieren. Das hat uns zweifellos große Fortschritte in vielen Bereichen gebracht.

Es hat aber auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir die Beziehungen zu unseren Mitmenschen erleben. Vielfach herrscht eine Sichtweise vor, die man etwa so beschreiben könnte: Weil ich meinen Pflichten nachkomme, habe ich Anspruch darauf, daß sich die anderen entsprechend verhalten. Und basta. Mehr interessiert mich am anderen nicht. Leistungsaustausch gewissermaßen: Wohlverhalten gegen Wohlverhalten. Und wo der andere sich nicht den Vorstellungen entsprechend verhält, löst er Ärger aus. Viele empfinden diesen Ärger sogar als berechtigt: “Schließlich halt ich mich ja auch an die Vorschrift!"

Je anonymer die Räume, in denen wir uns bewegen, umso ausgeprägter wird diese Einstellung. Typisches Beispiel: der Straßenverkehr. Da tritt der Mitmensch überhaupt nicht mehr als besondere Person in Erscheinung, sondern nur mehr als gesichtsloser Lenker eines Fahrzeugs, der sich an Spielregeln zu halten hat. Und wehe, er tut das nicht! Wieviel Ärger, Wut, Verwünschung, Herabwürdigung machen sich da tagtäglich im Verkehrsgeschehen unserer Städte Luft: “So ein Depp!"

Aber ähnlich geht es uns auf der Rolltreppe zur U-Bahn, in der Reihe vor der Supermarktkasse, am Telefon, wenn man endlos in der Warteschlange denselben Song vorgesetzt bekommt...Man könnte aus der Haut fahren. Wie kommt man dazu?! Mein unbefriedigter Anspruch auf erwartetes Verhalten meiner Umwelt produziert Irritierung und Ärger über den Menschen, der sich nicht meiner Erwartung entsprechend verhalten hat. Unsere zunehmend anonym organisierte Welt gibt uns mehr und mehr Anlaß zu solch “berechtigtem" Ärger.

Was haben diese Überlegungen mit der Barmherzigkeit zu tun? Sehr viel. Denn in einer Welt, in der mir die Mitmenschen vor allem als Funktionäre begegnen, in der sie mich vor allem als Dienstleister interessieren, da entscheidet ihre Funktionstüchtigkeit, da hat die Barmherzigkeit keinen wirklichen Platz. Tun wir uns daher nicht deswegen mit diesem Begriff heute so schwer?

Barmherzigkeit hat ihren Platz überall dort, wo der Mitmensch ein Gesicht, einen Namen, eine Geschichte hat, wo der Besondere dem Besonderen begegnet, wo es so etwas wie eine “Liebesbeziehung" gibt. Dieser Raum droht heute aber zu verkümmern. Ihn gilt es wiederzubeleben. Und das kann auf der Rolltreppe ebenso wie im Billageschäft geschehen: Bei den zahllosen Begegnungen, die wir täglich haben, gilt es, nicht aus den Augen zu verlieren, daß alle, die uns begegnen, von Gott geliebte Menschen sind, jeder wert, ums seiner selbst willen geliebt zu werden. Natürlich kann man nicht mit jedem ein Gespräch beginnen, aber segnen können wir die Menschen um uns. Ihnen ins Gesicht sehen, daran denken, daß sie wie wir Sorgen und Nöte stecken, von Hoffnungen und Ängsten bewegt werden. Und all das können wir vor den barmherzigen Gott tragen...

Gottes Barmherzigkeit in diese Welt tragen - das ist die Herausforderung, besonders im Umgang mit den Menschen, die uns nahestehen. Denn auch in diesen Beziehungen nimmt das Anspruchsdenken allzu leicht überhand, verblaßt im Alltagstrott das Wissen um die Kostbarkeit des anderen. Und dabei: Wie gut tut es mir doch, wenn mir jemand liebe- und verständnisvoll begegnet, zuhört, Interesse zeigt, Nachsicht mit meinen Schwächen hat, nicht auf ihnen herumreitet, sie mir dauernd in Erinnerung ruft, sondern Geduld aufbringt, mir verzeiht, wenn ich ihn darum bitte, statt monatelang ein längst besprochenes Versagen aufzuwärmen, der Interesse an meinen Sorgen hat, bereit ist, sie mit mir zu teilen...Kurzum, jeder ist irgendwie auf der Suche nach Menschen, die ihn annehmen, wie er ist, die Heimat, Geborgenheit, Zuflucht geben - trotz allem und immer wieder.

Es ist eine der schönsten und schwierigsten Aufgaben der Eltern, ihren Kindern möglichst viel von den oben angeführten Erfahrungen zu vermitteln. Sie bekommen dann ohne viel Reden mit, was es heißt, daß Gott barmherzig ist. Sie haben es an ihren Eltern erlebt: Hinter ihnen ist der große, geheimnisvolle, wunderbare, allmächtige Vater am Werk, der verzeiht und Versöhnung schenkt, der einen Neubeginn ermöglicht, der Frieden stiftet und tröstet, der in ausweglos scheinenden Situationen durchträgt, ja, der einfach das Leben, so wie es sich darstellt, lebbar macht - und sinnvoll und daher letztlich auch froh und erfüllt. Der besser als wir weiß, was uns gut tut und an dessen Hand wir auch die Kraft finden, durch schwierige Lebensphasen zu gehen. Wo Menschen aus dieser Erfahrung leben, tritt Gottes Barmherzigkeit für andere erkennbar in diese Welt.

Dann fällt auch die Entscheidung für ein Leben aus dem Glauben leichter, weil man ahnt, daß sich das Wagnis lohnt: Du kannst Dein Leben in Gottes Hand legen, nirgends ist es besser aufgehoben, du mußt nicht mehr selber ängstlich sorgen, Gottes barmherzige Liebe sorgt vor, laß sie dich ausfüllen. Diese Erfahrung müssen die Apostel zu Pfingsten gemacht haben, als der Heilige Geist sie mit neuem Leben erfüllt hat. Jedes Jahr höre ich staunend die Berichte von der fundamentalen Wandlung, die aus den verängstigten Hascherln aus der Provinz, mutige, selbstlose Zeugen für die Großtaten Gottes gemacht hat.

Und nach einem ähnlichen Zeugnis hungert unsere verwirrte, entmutigte Zeit.

Christof Gaspari


Verwandle mich in Dich

Ich möchte mich ganz in Deine Barmherzigkeit umwandeln, um so ein lebendiges Abbild von Dir zu sein, o Herr, möge diese größte Eigenschaft Gottes, Seine unergründliche Barmherzigkeit, durch mein Herz und meine Seele hindurch zu meinen Nächsten gelangen. Hilf mir, o Herr, daß meine Augen barmherzig schauen, daß ich niemals nach äußerem Anschein verdächtige und richte, sondern wahrnehme, was schön ist in den Seelen meiner Nächsten und ihnen zu Hilfe komme.

Hilf mir, daß mein Gehör barmherzig wird, damit ich mich den Bedürfnissen meiner Nächsten zuneige, daß meine Ohren nicht gleichgültig bleiben für Leid und Klagen der Nächsten. Hilf mir, Herr, daß meine Zunge barmherzig wird, daß ich niemals über meinen Nächsten abfällig rede, sondern für jeden ein Wort des Trostes und der Vergebung habe.

Hilf mir, Herr, daß meine Hände barmherzig und voll guter Taten sind, damit ich meinem Nächsten nur Gutes tue und schwierigere, mühevollere Arbeit auf mich nehme.

Hilf mir, Herr, daß meine Füße barmherzig sind, daß sie meinen Nächsten immer zu Hilfe eilen und die eigene Mattheit und Ermüdung beherrschen. Meine wahre Rast ist im Dienst am Nächsten.

Hilf mir, Herr, daß mein Herz barmherzig ist, auf daß ich alle Leiden der Nächsten empfinde, daß ich niemandem mein Herz versage, aufrichtigen Umgang auch mit denen pflege, von denen ich weiß, daß sie meine Güte mißbrauchen werden; ich selbst werde mich im barmherzigsten Herzen Jesu verschließen. Über eigene Leiden will ich schweigen. Deine Barmherzigkeit, o mein Herr, soll in mir ausruhen (...)

O mein Jesus, verwandle mich in Dich, denn Du vermagst alles.

Sr. Faustyna Kowalska
Tagebuch von Sr. Faustyna Nr. 163)

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