Entwicklung – ein Zauberwort in unseren Tagen: Alles muß sich entwickeln, nichts darf bleiben, wie es ist. Das Evolutionsdenken unterstellt jeder Veränderung eine Verbesserung des Bisherigen. Im folgenden eine Kritik dieses Denkansatzes.
Mehrere Anlässe sind es, die in letzter Zeit einen guten Grund geben, uns mit den Fragen „Was ist Entwicklung im Glauben?“ und – noch grundsätzlicher – „Was ist überhaupt Entwicklung?“ näher zu beschäftigen. Einer dieser Anlässe ist die heutzutage so häufige Kritik am katholischen Glauben und die Forderung, ihn „weiterzuentwickeln“.
Ein anderer ist, daß der Protestantismus genau das kritisiert, nämlich, daß die Katholische Kirche aus dem einfachen Glauben an Christus ein kompliziertes Gebilde „entwickelt“ habe. Das bevorstehende Luther-Gedenkjahr ist somit ein Anlaß zu fragen, ob und wie seine Lehre eine Weiterentwicklung des alten Glaubens ist. Sodann ist durch die „New Age“-Ideologie und ihre Rede von der „Transformation“ eine fast allgegenwärtige Verwirrung eingetreten, die nach Entwirrung verlangt. Schließlich hat die Selig?sprechung von Kardinal John Henry Newman im September 2010 dessen berühmte Abhandlung Über die Entwicklung der Glaubenslehre einer größeren Leserschaft erschlossen und damit das Werkzeug für eine Analyse von „Entwicklung“ an die Hand gegeben.
Betrachten wir, davon ausgehend, zunächst die offenkundigen Tatsachen: Von Kindesbeinen an sind wir mit der „Evolutionstheorie“ vertraut. Jeder glaubt mehr oder weniger bewußt an „Evolution“, zu Deutsch „Entwicklung“. In der einen oder anderen Form ist dieser Glaube praktisch allgegenwärtig: Seit unseren Schultagen wird uns erzählt, daß sich z. B. die Reptilien über viele Zwischenstufen „aus“ den Fischen entwickelt hätten und daß der Mensch „vom“ Affen abstamme.
Wie selbstverständlich gehen viele davon aus, daß „moderne“ Sprachen eine „Weiterentwicklung“ alter Sprachen seien und daß sich „Hochreligionen“ „aus“ primitiven Kulten entwickelt hätten. In der „New Age“-Ideologie ist viel von „Transformation“ und „Evolution“ die Rede, womit die Verbreitung der Meinung bezweckt werden soll, daß es überhaupt keine unveränderbaren Wesenheiten und keine Artkonstanz gäbe, daß im Gegenteil alles in etwas anderes überführbar oder verwandelbar wäre.
Innerhalb der Kirche wird oft gefordert, daß man den Glauben „weiterentwickeln“ oder an die Zeit „anpassen“ müsse. Wie aber schon angedeutet, wirft der Protestantismus der Kirche gerade die „Entwicklung“ eines komplizierten theologischen Systems als Verrat an einem „reinen, biblischen Glauben“ vor. Schauen wir uns also ein bißchen genauer an, was es mit all dem auf sich hat.
Stellen wir uns zunächst eine grundsätzliche Frage: Was heißt es eigentlich, daß sich eine Art „aus“ einer anderen „entwickelt“, also z. B. die Reptilien aus den Fischen? Ist dieser Gedanke überhaupt sinnvoll? Kann man, um ein Beispiel aus der Welt der Ingenieurskunst zu nehmen, sinnvollerweise sagen, der Mähdrescher wurde aus der Sichel weiterentwickelt, oder, weil man ja von art- und gattungsübergreifender Evolution ausgeht, der Rasierapparat – über viele, viele Zwischenstufen – „aus“ der Nähmaschine? Genau das wäre aber die Vorstellung der Darwinisten und New Ager. Nur: Was wären dann die „missing links“?
Wir bestreiten, daß es solche überhaupt geben kann, denn jedes einzelne Exemplar wäre in sich widersinnig, somit – in der Biologie – überlebensunfähig, beziehungsweise – in der Technik – funktionsuntauglich. Eine natürliche Art, ein technisches Gerät, ein weltanschauliches oder politisches System kann sich also nur innerhalb der Grenzen des eigenen Wesens „entwickeln“. (Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß die Naturwissenschafter die biologische Art mit dem lateinischen Ausdruck „species“ bezeichnen, eine Übersetzung aus dem Griechischen „eidos“, also die Platonische „Idee“)
Machen wir also ein Zwischenresümee: Von „Entwicklung“ kann man nur sprechen, wenn Anlagen zur Entfaltung gebracht werden, die schon vorhanden sind. In diesem Sinn ist es logisch, daß das Grundmodell, also das Wesen einer Sache, auch in der weiterentwickelten Form erkennbar sein muß. Die Perfektionierung der Nähmaschine bringt eben keinen Rasierapparat hervor und die Weiterentwicklung einer Fischart kein Säugetier.
Die Weiterentwicklung z. B. der platonischen Philosophie kann klarerweise nicht in der Hervorbringung einer ihr widersprechenden Lehre bestehen.
Hier schlagen wir auch den Bogen zur Glaubenslehre, um die es uns letztlich geht. Auch hier hat eine äußerst verworrene Vorstellung von „Entwicklung“ Platz gegriffen. Viele „neue“ Theologien liegen nicht in der Logik des überlieferten Glaubens. Schon das Schlagwort einer „Neuen Theologie“ (wie das im 20. Jahrhundert gleichsam als Markenzeichen aufgebracht worden ist) legt nahe, daß man sich bewußt vom Althergebrachten abkoppeln wollte. Nicht jede Änderung in der Theologie und Glaubensverkündigung ist also eine „Weiterentwicklung“ oder ein „Fortschritt“.
Es soll aber ein Wachstum im Glauben geben, wie der Apostel ausdrücklich schreibt (Eph 4,13ff). Wie soll der nun vonstatten gehen? John Henry Newman nennt in seiner Abhandlung über die Entwicklung der christlichen Lehre (1845) sieben Kriterien für eine gesunde und entwicklungsfähige Lehre (in eigener Übersetzung bzw. Paraphrase): (1) Erhaltung des Typs, (2) Kontinuität ihrer Prinzipien, (3) die Kraft, (vermeintlich) außenstehende Elemente einzubauen, (4) logische Folgerichtigkeit, (5) Vorwegnahme der Zukunft, (6) Bewahrung der Vergangenheit, (7) anhaltende Lebenskraft.
Newman exerziert diese Kriterien dann schrittweise am katholischen Glauben durch und beweist eindrucksvoll dessen ununterbrochene Kontinuität und Folgerichtigkeit vom Beginn, also der Predigt Jesu Christi und der Apostel, bis in seine eigene Zeit. Im folgenden sollen drei Beispiele die lückenlose Entwicklung zentraler Glaubenswahrheiten illustrieren.
Beim Primat des Papstes führt eine logische Entwicklungslinie von Mt 16,18 und Joh 21,15ff über die daraus abgeleitete Praxis der frühen Kirche, Streitfragen letztinstanzlich in Rom zu entscheiden, bis zur Definition der Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Sitten und zum Universalprimat über die gesamte Kirche des I. Vaticanums im Jahr 1870. Der Keim, nämlich das Wort Jesu vom Felsenmann, brachte das voll entwickelte römische Papsttum als Frucht hervor. Dahinter kann man nicht mehr zurückgehen, ohne den Ursprung zu verraten.
Ein zweites Beispiel: Die biblisch unzweideutig verbürgte Lehre von der Gegenwart Christi in der Eucharistie (vgl. Joh 6,51.55; 1 Kor 11,27-29) führte – trotz und wegen vieler Infragestellungen, Zweifel und Bekämpfungen – zu den Formen eucharistischer Frömmigkeit in späterer Zeit, zu ehrfürchtigem Kommunionempfang und zur eucharistischen Anbetung.
Das Abgehen von einem würdigen Kommunionempfang oder die Abschaffung eucharistischer Anbetung können also von der Sache her nicht „fortschrittlich“ sein, weil sie ja hinter die schon gewonnenen Erkenntnisse der realen Gegenwart Christi im Sakrament zurückfallen.
Ein drittes Beispiel ist die Reliquienverehrung. Sie mag für viele unbedeutend erscheinen, an ihr wird aber die Tragweite des Glaubens an die Menschwerdung Gottes deutlicher sichtbar. Daß die Reformation mit besonderer Schärfe gegen sie gewütet hat und daß sie in den vergangenen 40 Jahren als „Aberglaube“ bekämpft wurde und viele Reliquienschreine aus den Kirchen und Klöstern geworfen wurden, zeigt nur, daß sie offenbar nicht so unbedeutend für die Gläubigen war.
Der Grundgedanke der Reliquienverehrung ist folgender: In der Taufe wird der menschliche Leib mit dem menschgewordenen Wort verbunden. Das gibt ihm eine ganz neue Würde. Durch die Auferstehung Christi wird auch die Auferstehung „des Fleisches“ am Ende der Zeit angekündigt. Daher ist in den Augen der Christen der Leichnam der Märtyrer nicht mehr unrein wie im Alten Bund, sondern gleichsam Träger der Gnade.
Diese Einsicht in die Würde des mit Gott verbundenen Leibes führte eben zur Verehrung des Leichnams der Heiligen und damit zu den großartig ausgeführten Gräbern und Reliquienschreinen, wie wir sie in unseren Kirchen noch (oder wieder) besitzen. Auch die ehrerbietige Behandlung von Stoffreliquien ergibt sich übrigens nahtlos aus einem biblischen Vorbild (Apg 19,12). Daher ist die Ablehnung der Reliquienverehrung klarerweise keine Weiterentwicklung des biblischen Glaubens, sondern dessen Bestreitung.
Es ist daher immer kritisch nachzufragen, wenn verschiedene theologische oder lehramtliche Positionen als „konservativ“ oder „progressiv“ bezeichnet werden. Aus dem Gesagten wird klar, daß die Entgegensetzung beider Qualifikationen vollkommen irreführend ist: Ein echter Fortschritt in einer Lehrentwicklung („progressiv“) muß in einer inhaltlichen Kontinuität und Bewahrung zu den früheren und grundlegenden Positionen („konservativ“) stehen, sonst handelt es sich um Verfall oder Verrat.
Wie können wir resümieren?
(1) Nicht jeder Veränderungsprozeß, den man oberflächlich als „Entwicklung“ bezeichnet, ist eine solche. Die Verbreitung der darwinistischen Evolutionstheorie trug zu einer Vernebelung des kritischen Denkens bei. Diese unterscheidet eben zwischen Entwicklung, Veränderung und Verfall einer Sache. Im Bereich der Biologie gibt es auch keinen fossilen Beweis für die vermutete kontinuierliche Entwicklung über die Artgrenzen hinaus.
(2) Im katholischen Glauben gibt es Entwicklung, im Sinne der Entfaltung des keimhaft in der Offenbarung Angelegten: Newman wies am Vorabend seiner Konversion darauf hin, daß die katholische Lehrentwicklung durch harte innere und äußere Prüfungen (also Häresien und Verfolgungen) hindurchgegangen ist und trotzdem oder gerade deswegen ein innerlich stimmiges Lehrgebäude entwickelt hat.
Vergleicht man die katholische Lehrentwicklung und die dramatischen Umstände, unter denen sie sich behaupten mußte, mit der anderer weltanschaulicher Systeme und Organisationen, so sieht man gleich, wie letztere kurzlebig sind und oft nur von politischer Gewalt zusammengehalten werden. Die protestantische Kritik an der Katholischen Kirche baut auf unbiblischen, widersprüchlichen und unnachvollziehbaren Voraussetzungen auf, stellt eine neue, erfundene Lehre dar und ist somit zurückzuweisen. Kaum jemand wußte das besser als der Anglikaner John Henry Newman, der wenige Tage, nachdem er die erste Version des genanntes Werkes unvollendet abgebrochen hatte, selbst um Aufnahme in die Kirche bat.
(3) Die Praxis des kirchlichen und privaten Lebens wird davon geprägt, was grundsätzlich geglaubt wird. Dabei mag ein Glaubensgut wie die Reliquienverehrung keine zentrale Rolle spielen. Daraus folgt allerdings nicht, daß sie unbedeutend wäre. Jede Veränderung oder Beschneidung des Glaubensgutes hat schädliche Auswirkungen auf die Praxis. Man kann nicht einen Stein herausbrechen und dann erwarten, daß das Gebäude heil bleibt. -
Anhand dieser Ausführungen wird deutlich, wie sehr die Vernunft, der Logos also, Heimatrecht in der Katholischen Kirche hat und wie sehr – entgegen aller Kritik - die Lehre der Kirche in sich stimmig und einleuchtend ist. Das ist eben unser Ziel gemäß Eph 4,13: Die Entwicklung von Glauben und Vernunft zur Vollreife.