Heute wird in Italien der jährliche “Erntedanktag" gefeiert, dessen Thema lautet: “Die Erde: ein Geschenk für die ganze Menschheitsfamilie". In unseren christlichen Familien lehrt man die Kinder, vor dem Essen immer mit einem kurzen Gebet und dem Kreuzzeichen dem Herrn zu danken. Dieser Brauch soll erhalten oder wiederentdeckt werden, denn er erzieht dazu, das “tägliche Brot" nicht als etwas Selbstverständliches zu betrachten, sondern darin eine Gabe der Vorsehung zu erkennen.
Wir sollten uns daran gewöhnen, den Schöpfer für alle Dinge zu loben: für die Luft und für das Wasser - diese wertvollen Elemente, die die Grundlage des Lebens auf unserem Planeten sind - wie auch für die Nahrung, die Gott uns durch die Fruchtbarkeit der Erde für unseren Unterhalt gibt.
Jesus lehrte seine Jünger beten und dabei den himmlischen Vater nicht um “mein", sondern um “unser" tägliches Brot zu bitten. Er wollte, daß sich jeder Mensch für seine Brüder und Schwestern mitverantwortlich fühlt, damit niemandem das Lebensnotwendige fehle. Die Erzeugnisse der Erde sind ein Geschenk, das Gott “für die ganze Menschheitsfamilie" bestimmt hat.
An dieser Stelle berühren wir einen wunden Punkt: das Drama des Hungers, das weiterhin sehr ernst ist, auch wenn es in jüngster Zeit auf höchster Ebene, in Institutionen wie den Vereinten Nationen und besonders der FAO, behandelt wurde. Der letzte Jahresbericht der FAO hat bestätigt, was die Kirche aus der direkten Erfahrung der Gemeinschaften und Missionare sehr gut weiß, und zwar daß über 800 Millionen Menschen in einem Zustand der Unterernährung leben und daß zu viele, vor allem Kinder, verhungern.
Wie kann man dieser Situation entgegentreten, die zwar schon oft angeprangert wurde, in der aber dennoch nichts auf eine Lösung hindeutet, ja die sich in mancher Hinsicht verschlimmert? Sicher müssen die strukturellen, mit dem Steuerungssystem der Weltwirtschaft verbundenen Ursachen beseitigt werden, denn durch dieses System fällt die Mehrheit der Ressourcen des Planeten einem kleinen Teil der Bevölkerung zu. Diese Ungerechtigkeit wurde von meinen verehrten Vorgängern, den Dienern Gottes Paul VI. und Johannes Paul II., bei verschiedenen Gelegenheiten verurteilt.
Um in großem Ausmaß einzugreifen, ist es nötig, im Modell der globalen Entwicklung eine “Umkehr" zu bewirken; nicht nur der Skandal des Hungers, sondern auch die Notstände in der Umwelt und der Energieversorgung erfordern dies inzwischen.
Jeder einzelne und jede Familie kann und muß jedoch etwas tun, um den Hunger in der Welt zu lindern, durch einen Lebens- und Konsumstil, der vereinbar ist mit der Bewahrung der Schöpfung und den Kriterien der Gerechtigkeit gegenüber denen, die in den verschiedenen Ländern den Boden bestellen.
Liebe Brüder und Schwestern, der heutige “Erntedanktag" lädt uns einerseits ein, Gott für die Früchte der landwirtschaftlichen Arbeit Dank zu sagen; andererseits ermutigt er uns zu einem konkreten Engagement, um die Geißel des Hungers zu überwinden.
Papst Benedikt XVI.
Worte von Papst Benedikt XVI. beim Angelus am 12.11.06 am Petersplatz in Rom.