Mai 1968: Studentenunruhen in Frankreich und bald auch in ganz Westeuropa, dessen geistiges Klima sie nachhaltig beeinflussen. Autorität wird suspekt, die Sexwelle tritt ihren Siegeszug an, ebenso wie die Frauenbewegung. Schwer wiegen auch die Folgen für die Kirche - in Frankreich, aber nicht nur dort.
40 Jahre danach sprich man immer noch kaum über den Mai 1968 in der Kirche. Sind die damaligen Ereignisse für die Kirche in Frankreich folgenlos geblieben?
Fr. Thierry-Dominique Humbrecht: Ganz im Gegenteil. Zwar hat die 1968 angekündigte Revolution nicht stattgefunden, aber die Katholische Kirche war eine der Einrichtungen, die am meisten destabilisiert worden ist. Der geistige und moralische Rahmen der damals die Gesellschaft zusammenhält - er hatte katholische Wurzeln - zerbricht total. In dieser Situation spielt die sexuelle Liberalisierung eine zentrale Rolle. Die junge Generation lehnt die Hierarchien ab und verwirft das Prinzip der Autorität selbst. Wer sie ausübt ist suspekt. Außerdem kommen die damaligen Bischöfe mehrheitlich aus der Katholischen Aktion oder dem ländlichen Raum: Sie sehen sich mit einem Aufstand städtischer Intellektueller konfrontiert - und scheinen überfordert zu sein. “Auch für die Katholische Kirche stellt der Mai 68 das Ende einer Epoche dar," hält der Historiker Jean-Pierre Moisset fest.
Gérard Leclerc: Der Historiker Emmanuel Leroy-Ladurie hat mir gesagt, die Intellektuellen seien die am meisten vom Mai 68 erfaßten Gruppen gewesen: die Lehrer, die Uni-Professoren, die Beamten - aber vor allem auch die Geistlichkeit. Diese, sehr schmerzhafte Seite der Geschichte ist noch nicht geschrieben worden.
Humbrecht: So sehr der Mai 68 bei jedem Jahrestag - wie es eben bei kulturell und sozial bedeutsamen Ereignissen der Fall ist - Anlaß für zahllose Betrachtungen gibt (man schaue nur in die Auslagen der Buchhandlungen), so wenige Werke gibt es über Mai 68 und die Kirche. Die Philosophen analysieren, die Soziologen beschreiben, Zeitzeugen erzählen... aber in der Kirche: nichts! Mund zu, wir machen weiter. Dieser Kontrast zwischen gesellschaftlicher Reflexion und fehlenden Zeugnissen in der Kirche ist bewegend. In den Sakristeien wird zwar darüber geredet, aber offiziell bleibt das Thema tabu...
Warum dieses Schweigen?
Leclerc: Bischof Pézeril, ehemals Weihbischof unter Erzbischof Marty in Paris, den ich diesbezüglich angesprochen habe, gestand mir: “Die Krise war überall, tiefgreifend, schrecklich. Ganze Jahrgänge von Seminaristen sind auf und davon gegangen, ganze Priesterjahrgänge haben sich laisieren lassen. Es war furchtbar." Meinem Eindruck nach schätzt man die Zahl der Priester und Ordensleute, die aufgegeben haben, auf 1.500 allein für 1968. Zwischen 1971 und 1975 verlassen 960 Priester ihren Dienst. Das gab es noch nie! Ein schrecklicher Aderlaß, über den man lieber den Schleier des Schweigens breitet.
Humbrecht: In Anbetracht dieses Blutbades hat die Mehrzahl der Priester und Ordensleute stumm gelitten. Es ging ja nicht nur um dieses Abtrünnigwerden, sondern auch um Ideologien und Machtmißbrauch. Wir haben keine geschichtlichen Untersuchungen über die damaligen Äußerungen der Priester, über Artikel in katholischen Medien, über Berichte von dem, was sich in der Liturgie abgespielt hat... Würde man all das zusammen darstellen, hieße es wohl:“Sie übertreiben!"
Und noch etwas erklärt dieses Stillschweigen: Im gesellschaftlichen Raum, haben sich die Generationen erneuert - in der Kirche nicht. Das Durchschnittsalter der Priester liegt in Frankreich bei 70 Jahren. 1968 waren sie 30, Männer, die im Leben standen, in Amt und Würden... Die Akteure leben noch. Darüberhinaus: Mai 68 hat die kirchlichen Strukturen so geschwächt, ihre Autorität so untergraben, ihre Kapazität so verringert, daß wir derzeit auf der Intensivstation liegen: Da traut man sich nicht laut zu reden. Alle sind sich einig: nur keine Wellen.
Merkwürdigerweise hat dieser Aufstand eine gefühlsmäßige Einheitsfront erzeugt. (...)
Drei Jahre vor dem Mai 68 ist das 2. Vatikanische Konzil (1962-1965) zu Ende gegangen. Stehen beide Ereignisse in Beziehung?
Leclerc: In seinem Konziltagebuch hat Kardinal Henri de Lubac, einer der Konzilsakteure, aufgezeigt, daß die eigentliche Konfrontation nicht - wie üblicherweise behauptet - zwischen dem Lager Ottaviani, der “Kurienpartei", und der Mehrheit der Konzilsväter stattgefunden hat. Seiner Meinung nach war die grundlegende Auseinandersetzung am 2. Vaticanum eine theologische Konfrontation über die Stellung der Kirche in der Welt: sollte sie weiterhin Leuchtturm des Heils sein - auch wenn sie von der Welt nicht verstanden würde - oder sollte sie einen Kniefall vor der rasant fortschreitenden Welt und deren Ideen machen?
Nun hatten wir aber, insbesondere in der französischen Kirche, einen stark ausgeprägten Hang, uns der Welt anzuschließen: Wir litten an einem starken Minderwertigkeitskomplex im Angesicht moderner Entwicklungen, die wir meinten, verpaßt zu haben. Vor dieser wunderbaren Welt galt es, sich zu verbeugen! Als dann aber ein gewisser Karol Wojtyla bei der Ausarbeitung von “Gaudium et Spes" feststellte, die Kirche habe der Welt Wesentliches zu sagen und sei dazu auch imstande, die Kirche habe der Welt auch wichtige Fragen zu stellen und könne dies auch als einzige tun, da verstanden ihn viele Konzilsväter nicht. Für Kardinal de Lubac war ab dem Konzil der Wurm in der Frucht: Denn das Konzil läßt eine ganze Reihe von Klerikern unbefriedigt zurück. Sie werden in den folgenden Jahren eine antikirchliche Neurose und Ressentiments entwickeln. All das wird sich in den theologischen Fakultäten, den Orden, den Noviziaten... auswirken.
Humbrecht: Bis 1967 dürfte das Konzil in seiner eigenen Tradition ohne allzu großen Wirbel aufgenommen worden zu sein. Von 1967 auf 1968 kommt es jedoch zu einem brutalen Bruch: Michel de Certeau spricht von einem “Gründungsbruch". Man sieht sich nicht mehr in einer durchgehenden Evolution dessen, was man vorher gelebt hatte, sondern will tabula rasa mit der Vergangenheit machen. Das Konzil wird nicht mehr als etwas Neues im Rahmen der Tradition angesehen. Es gilt als revolutionärer Prozeß, nicht als reformierend.
Mai 68 hat diese Krise also beschleunigt, war somit ein Katalysator für den Mißmut einiger Kleriker?
Leclerc: Ja. 1968 treffen die soziale und die kirchliche Krise aufeinander. Zur heftigen gesellschaftlichen Krise gesellt sich eine heftige Krise der Theologie und der Mystik. Ich komme noch einmal auf Kardinal de Lubac zurück: Für ihn war diese Zeit grauenhaft. Er mußte mitansehen, wie alle seine Jesuiten-Novizen zu Demos beim Odéon gegangen sind. Er erlebte eine schreckliche Auflösung - sowohl theologisch wie spirituell - innerhalb des Ordens mit, ohne etwas dagegen tun zu können... Er, der als Held im Kampf gegen den Fundamentalismus galt (1950 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen), wurde nun plötzlich als “Saukerl" angesehen, der sich dem Lager der Reaktion angeschlossen hätte. Jahrelang wird er an Depressionen leiden. Es scheint, daß ihn erst die Ernennung von Jean-Marie Lustiger zum Erzbischof von Paris da herausgeholt hat. (...)
Hat der Mai 68 nicht auch echte Fragen aufgeworfen?
Humbrecht: Einiges wurde zurecht kritisiert. In der Gesellschaft ebenso wie in der Kirche wurde die Macht unerträglich autoritär und von oben nach unten ausgeübt. Viele hegten Ressentiments gegen eine Kirche, die keine Luft zum Atmen ließ. Damals gab es in vielen Einrichtungen eine Art Kastenwesen, das demütigend sein konnte... Das hat dann einen hohen Preis gekostet. Meiner Ansicht nach gibt es einiges Positives: das Recht auf freie Meinungsäußerung, weniger Machtausübung von oben, mehr Hinhören auf den Menschen; eine gewisse Beteiligung an den Entscheidungen; das Gespräch, bevor eine Entscheidung getroffen wird; Freude am Debattieren, die Möglichkeit etwas einzuwenden (leider mit fallender Tendenz); mehr Berücksichtigung des einzelnen in den Orden und Seminaren... Aber all das wurde auf dem Hintergrund von Forderungen und von Bruch mit der Tradition vertreten.
Leclerc: Generalversammlungen übernahmen die Leitung von Orden und Seminaren! P. Garrigues erzählt von einem Kloster in Arbresle. Ein alter Dominikanerpater, ehemals Übersetzer von Aristoteles, bat um die Erlaubnis, in die Stadt zu gehen, um sich ein Buch des Philosophen anzuschauen. Seine Mitbrüder beriefen eine Generalversammlung ein, die das Thema besprach und beschloß: “Aristoteles ist nicht mehr aktuell - keine Erlaubnis."
Er erzählt auch von einem Gespräch mit P. Congar im Anschluß an eine Generalversammlung. Dieser beklagte sich über die absehbar negativen Folgen der dort gefaßten Beschlüsse für das gemeinsame religiöse Leben. Worauf ihn Garrigues fragte: “Warum treten Sie dann nicht dagegen auf? Sie haben doch eine enorme Autorität!" Darauf Congar: “Ich will in den Augen der jungen Mitbrüder nicht als alter Reaktionär dastehen, so wie Lubac oder Bouyer!" Diese beiden wurden nämlich als altmodisch angesehen, weil sie begonnen hatten, die verfälschte Interpretation des Konzils durch die selbsternannte intellektuelle Speerspitze der Kirche anzuprangern.
Hat der Heilige Geist den Mai 68 verschlafen?
Leclerc: Nein, sicher nicht! Maurice Clavel - ich bin stolz mich als einen seiner geistigen Söhne bezeichnen zu dürfen - hat den Mai 68 als großartige geistige Krise, in der der Heilige Geist geweht habe, bezeichnet. Diese Welt zerbricht unter der Last ihres eigenen Nichts. Diese Krise offenbart die fundamentale, tiefe Nichtigkeit des modernen Humanismus. Unsere Gesellschaft findet keinen Halt mehr in den atemlosen, nicht lebbaren Ideologien. Der Mensch, den man aus eigener Kraft hoch erheben wollte, wird zu einem Nichts, dem die Luft ausgeht. Für Clavel kann sich der Mensch nur in Jesus Christus wiedererkennen. Daher konnte er auch jene Christen nicht ertragen, die sich auf den Humanismus der Aufklärung beriefen und den Menschen seiner übernatürlichen Berufung entkleidet hatten. Wenn die Gesellschaft heute vorne und hinten ansteht, so deswegen, weil die politischen Ideologien der Moderne scheitern, weil sie von schwachsinnigen oder verrückten Vorstellungen von Menschen aufbauen!
Humbrecht: Die Ausgießung des Heiligen Geistes über die Kirche in den siebziger Jahren ist auf Mai 68 zurückzuführen - allerdings eher zufällig. Sie ist eine gesunde Reaktion auf die Ausmerzung des geistigen Lebens: der Klerus verweltlicht, die Identität des Priesters wird zerstört, man betet nicht mehr, man entledigt sich aller besonderen Erkennungszeichen, massakriert die Liturgie, bezweifelt die Autorität des Lehramtes, krempelt die Theologie um, sperrt die Priesterseminare... Die Ordensgemeinschaften werden nicht mehr durch ein geistiges Klima zusammengehalten, sondern durch politische Aktion, äußerst stereotyp und bald außer Mode. Und das zerstört sie. Wie sagt doch Marx? Man soll die Welt nicht betrachten, sondern verändern.
Zum gegebenen Zeitpunkt hat dann das christliche Volk, das dabei ist wegzuschrumpfen, aus dem Glauben heraus rebelliert. In diese Reflexhandlung um zu überleben, strömt der Heilige Geist. Es entsteht eine Unzahl von neuen Gemeinschaften, von Laien oder Geistlichen, von Gebetsgruppen, intellektuellen Gruppierungen, um auf den Ruinen neu aufzubauen. Nebenbei bemerkt: Unter deren Gründern gibt es viele 68er.
Auszug aus Famille Chrétienne v. 3.-9.5.08
Die Gesprächspartner
P. Thierry-Dominique Humbrecht, geboren 1962, ist Dominikaner in Bordeaux. Er unterrichtet Philosophie und ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Berufung.
Gérard Leclerc, geboren 1942, erlebte den Mai 68 im Quartier Latin mit. Er ist Journalist und Autor von “L'Église catholique, crise et renouveau" (Die Katholische Kirche, Krise und Erneuerung), in dem eine erste Bilanz des Geschehens in den sechziger Jahren gezogen wird.