VISION 20006/2008
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Abschied vom Dogma des unbegrenzten Wachstums

Artikel drucken Über tiefreichende Wurzeln der Krise auf den Finanzmärkten

Tausende Milliarden wurden weltweit zur “Sanierung" der Finanzmarktkrise locker gemacht. Fragt sich nur: Wurde damit das zugrundeliegende Problem gelöst?

Hat Dich die Krise auf den Weltfinanzmärkten überrascht?

Heinrich Wohlmeyer: Nein. Ich habe allerdings den Anlaß des Platzens der Blase unterschätzt - übrigens wie die meisten Banker. Die US-amerikanischen Hypothekenbanken arbeiten anders, als die europäischen. Hier sind Pfandbriefe mündelsicher, sie basieren nur auf 60 Prozent des Wertes einer Liegenschaft. Die Amerikaner setzen vielmehr den (total überzogenen) Höchstwert ein. Und diese Fehleinschätzung ist offenbar geworden und hat zum Zusammenbruch führender Banken geführt. Dabei haben die USA eine zynische Politik betrieben: Die zwei großen Hypothekenbanken, die die Krise ausgelöst hatten, wurden durch Verstaatlichung gerettet. Ihr Konkurs hätte den US-Markt betroffen. Dafür hat die US-Regierung den Derivatenhändler “Lehman Brothers" in den Konkurs geschickt, dessen Pleite das Ausland betroffen hat.

Handelt es sich bei der jetzigen Krise nur um die Folge von Fehlspekulationen oder reicht die Krise tiefer?

Wohlmeyer: Mir war immer klar, daß unser System vom Ansatz her nicht durchhaltbar ist. Jeder, der über geometrische Reihen nachdenkt, weiß, daß wir nicht unbegrenzt wachsen können. Das Prinzip des Zinseszinses bewirkt aber unbegrenztes Wachstum. Nehmen wir an, daß wir “nur" 3% pro Jahr wachsen. Das ergäbe, grob gesprochen, eine Verdoppelung des Konsums in 13 Jahren. Was heißt das dann aber nach 40 Jahren? Jedes Jahr ein neues Auto, jeden Monat einen neuen Fernseher, jede Woche ein neues Handy...? Ich habe das einem Top-Banker vorgerechnet, worauf mir dieser nach einer Schockpause geantwortet hat: “Wir spielen das Spiel solange es geht." Darin kommt eine fatale Haltung zum Ausdruck: Hinter uns die Sintflut.

Wie lange kann man sich noch so verhalten?

Wohlmeyer: Ich möchte an eine Einrichtung erinnern, die wir aus der Heiligen Schrift kennen: das Jobeljahr. Die Juden waren angehalten, alle 50 Jahre im Jobeljahr alle Vermögensverhältnisse neu zu ordnen: den Grundbesitz neu zu verteilen, Schuldknechte freizulassen, Schulden zu streichen. Diese Regel ist von der Erkenntnis getragen, daß der Zinseszins nicht funktionieren kann - jedenfalls wenn man Krieg oder schwere soziale Spannungen, die zu Explosionen führen, vermeiden will. Dann muß ich eine geordnete Rückverteilung machen. Weltweit werden wir das sicher nicht schaffen. Aber wir können etwas tun: Den Zinseszins abschaffen.

Ist das vorstellbar?

Wohlmeyer: Etwas in diese Richtung spielt sich ja bereits ab. Die International Development Agency, die für die ärmsten, am höchsten verschuldeten Länder Mittel zur Verfügung stellt, vergibt bereits Kredite mit bis zu 30jähriger Laufzeit, mit 0,5 bis ein Prozent Zinsen. Das ist nicht mehr als eine Verwaltungsgebühr. Weil man weiß, daß die Länder die Zinsen einfach nicht zahlen können, funktioniert das.

Was würde es bedeuten, wenn die Anhäufung der Mittel durch Zinseszins wegfiele?

Wohlmeyer: Seriöse Rechnungen ergaben, daß in allen Gütern eine hohe Zinsenlast steckt: in einem Glas Bier 30%, in einer Immobilie bis zu 80. Fiele das weg, wären fast alle Infrastruktur-Investitionen rentabler: in Universitäten, Schulen, Straßen, Eisenbahnen. Wir hätten nicht nur einen Boom an Arbeit, sondern auch einen massiven Aufschwung von am Gemeinwohl orientierten Investitionen.

Wie steht es mit der Geldschöpfung der Banken? Entstehen da nicht Scheinwerte?

Wohlmeyer: Der Nobelpreisträger Maurice Allais hat bei einem Vortrag in Wien folgendes gesagt: Ginge ich mit Ihnen jetzt in den Nebenraum, um dort Banknoten zu drucken, würde ich sofort verhaftet werden. Wenn ein paar Straßen weiter eine Bank aus Luft Kredite kreiert, dann ist das höhere Weisheit. Die Autoren des Buches “Arbeit ohne Umweltzerstörung" haben das “fiat money" genannt - es werde Geld. In diesem Zusammenhang ist mir folgender Gedanke wichtig: Es ist an der Zeit, die Ökonomie nicht mehr als Naturwissenschaft anzusehen, sondern als “Kulturwissenschaft". Wir müssen uns klarmachen: Wir haben es im Bereich der Wirtschaft mit von Menschen gemachten Konstrukten zu tun. Man kann also nicht von Markt- und Geldmarktgesetzen sprechen, sondern man sollte sie als Spielregeln bezeichnen, die fehlerhaft sein können...

... und der Realität nicht gerecht werden...

Wohlmeyer: ... und daher zu korrigieren sind. Wir müssen also die Frage stellen: Ist nicht das System, das hier aufgebaut wurde, schlicht und ergreifend nicht mehr der Sache entsprechend?

Drängt sich da nicht die Frage auf: Welche Geistigkeit steht hinter unserem System? Welches Menschenbild? Wird der Mensch heute in seiner Größe gesehen? Und ist das System darauf ausgerichtet, ihm zu dienen? Folgt es nicht vielmehr Prinzipien, etwa dem, des grenzenlosen Wachstums, die den Lebensbedingungen einfach nicht entsprechen? Nichts in unserem Lebensraum wächst unbegrenzt.

Wohlmeyer:: Der berühmte Schweizer Ökonom Hans Binswanger hat in seiner Abschiedsvorlesung darauf hingewiesen, daß unser jetziges System auf der Sichtweise aufbaut, die menschliche Gier sei unbegrenzt. Er erzählte in diesem Zusammenhang die Sage von Erysichton: Dieser will - um einen riesigen Festsaal für sich und seine Freunde zu bauen - den höchsten Baum im heiligen Hain der Demeter, Göttin der Landwirtschaft und Fruchtbarkeit, fällen. Er wird gewarnt: “Tust du das, wirst du von jedem im Festsaal eingenommenen Mahl hungriger aufstehen als zuvor." Und das tritt ein, wie vorhergesagt. Dem unstillbaren Hunger fallen alle Vorräte zum Opfer. Zuletzt frißt Erysichton sich selber auf - eine Parabel für die heutige Situation. Wir werden von der unendlichen Gier permanenten Wachstums angetrieben. Dadurch beanspruchen wir Umwelt und Menschen immer mehr und betreiben damit langfristig Selbstmord. Hier bedarf es einer Neubesinnung. Wenn wir uns darauf einigen, daß wir nicht mehr wachsen müssen, werden wir die Detailregelungen für eine entsprechend funktionierende Wirtschaft finden. Und sie wird den Zinseszins nicht kennen.

Das Gespräch führte CG.

DI. Dr. Wohlmeyer ist Professor an der Wiener Boku und Autor des lesenswerten Buches: Globales Schafe Scheren - Gegen die Politik des Niedergangs. Edition va bene. 403 Seiten, 24, 90 Euro.

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