Wer heute von Wahrheit spricht, wird meist belächelt, wie Jesus vor Pilatus, der dem Herrn spöttisch die Frage gestellt hat: Was ist Wahrheit? Der Anspruch, für die Wahrheit zu stehen, bleibt in allen Zeiten für viele ein Ärgernis. Und dennoch…
Und doch – die Kirche hat durchgehalten! Sie nimmt „die Wahrheit für sich in Anspruch“, bekräftigte 1999 Kardinal Joseph Ratzinger auf einem Symposion, zu dem die Sorbonne eingeladen hatte.
Natürlich, die reflexartige, höhnische Abwehr, wenn jemand von Wahrheit spricht, setzt heute nicht ein, wenn es um Umfrage-Ergebnisse oder Wetterprognosen geht. Eigenartigerweise wagt es auch kaum jemand, „Wissenschaft“ in Frage zu stellen, wenn sie nur die Maskerade einer gottfeindlichen Ideologie ist wie die radikale Evolutionslehre, die sich Wissenschaft nennt, obwohl sie die Hauptkriterien der Naturwissenschaft, Beobachtung und Wiederholbarkeit, nicht vorzuweisen hat.
Aber wenn es um Gott geht oder Seine Gebote – wehe dem, der dann Wahrheit zu beanspruchen wagt! Er wird ohne argumentatives Verfahren gebrandmarkt: akademisch als Nobody, politisch als intolerant, radikal und daher gefährlich, moralisch als so arrogant, dass er die Wahrheit „gepachtet haben will“. Kein vernünftiger Mensch könne beanspruchen, Wahrheit, gar eine sichere Wahrheit zu kennen, wenn es um Gott geht!
Und was ist, wenn einer den Wahrheitsanspruch auf die Moral bezieht, also behauptet, sagen zu können, was gut und was böse ist? In diesem Fall begegnet er einer verwirrenden Lage, in deren Mitte ein neues Lehramt für MoralÂfragen thront. Dieses verkündet zuerst einmal einige Dogmen, die tatsächlich niemand anzweifelt: Auschwitz war böse, KinÂdesmissÂbrauch ist böse, Geld zu unterschlagen auch! Dann aber gibt es Sünden, die es früher nicht gab: eine Ohrfeige zu geben; so zu sprechen und zu schreiben wie früher alle Menschen, etwa Goethe, Joseph Roth, Karl Valentin, alle Deutschlehrer, ohne zu „gendern“; zu denken, dass es HomoÂsexuellen erlaubt sein muss, eine Veränderung anzustreben, und dass dies möglich ist; zu glauben, Kinder seien glücklicher bei ihren Müttern als bei „diplomierten“ Personen. Alles Pfui und „Sünde“ heute! Und wehe, wem Zweifel kommen an der unfehlbaren Lehr- und Bestimmungs-Autorität des Staates in allen Lebensfragen, besonders was die sexuelle Frühaufklärung der Kinder betrifft!
Eine Besonderheit des neuen Lehramtes im Vergleich zum überkommenen Lehramt der Kirche ist: Die neue Moral bedarf keiner Begründung und lässt keine Freiheit, ungestraft gegen sie zu sündigen. Die Sünder abzustrafen, besorgen die Medien, die den Pranger von einst perfekt und willig ersetzen!
Aber das neue Lehramt kennt noch einen Weg, den neuen, politisch erwünschten Menschen zu formen: Man verweist auf das Gewissen! Doch dem Gewissen ist sein frühere Aufgabe genommen und eine neue Kompetenz verliehen worden: Es muss „selbst entscheiden“, was gut und was böse ist, ohne Rücksprache mit irgendwelchen Geboten.
Auffallend ist: Die Funktion des neuen Gewissens ist es nicht mehr zu warnen, zu urteilen oder gar anzuklagen, sondern fast nur noch das zu erlauben, was in früheren Zeiten als Sünde galt! Konkret geht das so: Abtreibung? „Natürlich, jede Abtreibung ist eine zu viel, aber das muss die Frau in ihrem Gewissen selbst entscheiden!“ Oder: Zusammenleben ohne Trauschein? „Das geht niemanden etwas an, schon gar nicht die Kirche, das müssen die Leute selbst entscheiden!“ Oder: Was ist mit eingetragenen Partnerschaften von Homosexuellen? Antwort: „Ich vermisse Ihre Toleranz für Minderheiten, für Menschen, die gerade von Ihrer Kirche diskriminiert werden!“
So verschiebt sich das moralische Urteil über menschliches Tun und Unterlassen vom Verstand auf Herz und Gefühl! Darum kann man Gewissensentscheidungen nur hinnehmen und nicht diskutieren, ob sie richtig sind! Wahr und irrig sind out!
Das Problem ist nur noch die Kirche, die sich nicht und nicht anpassen will: „Warum ist die Kirche so unbarmherzig? Jedenfalls die Kirche in Rom und vor allem der Papst! Ein Glück, dass ich einen guten Priester kenne, der nicht so hartherzig ist wie Sie und andere Fundamentalisten!“
Überraschend ist: Bei all dem sind die Anhänger des neuen Lehramtes überzeugt, Jesus besser zu verstehen als die Kirche: Denn, „Jesus war ganz anders. Er wäre barmherzig gewesen, barmherziger als der Papst und alle seine engstirnigen Anhänger!“
Ist die Folge von all dem, dass die Menschen jetzt wirklich, vor allem die „heißen moralischen Eisen“, nach ihrem Gewissen entscheiden, jeder für sich? Mitnichten, denn bei genauem Hinsehen zeigt sich: Die Gewissensentscheidungen, die gefällt werden, gleichen einander fast immer wie ein Ei dem anderen und man kann sie in den Mainstream-Medien nachlesen. Von dort werden sie angeliefert und erst im Weiterverkauf nennt man sie „meine persönliche Meinung“.
Papst Johannes Paul II. hat gegen diese Neubestimmung des Gewissens und seiner Entscheidungen in größter Sorge eine Enzyklika geschrieben und erklärt, was das Gewissen wirklich ist und was nicht: Wenn man das Gewissen vom Anspruch der Wahrheit trennt, führt das kurz über lang zu einer Katastrophe!
Denn das Gewissen urteilt nicht „kreativ“ darüber, was gut und was böse ist, sondern darÂüber, ob die Taten des Menschen gut oder böse waren und warum sie es sind – im Licht der Wahrheit eines Gesetzes, das von Gott stammt, und nicht ohne sie. Denn „im Innern seines Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er nicht sich selbst gibt, ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist.“ So das Konzil im Anschluss an Paulus! Da aber Lesen ein Werk der Vernunft ist, kann auch diese Gottesschrift nur mit Hilfe der Vernunft richtig gelesen werden. Lesen muss man allerdings lernen, es kann auch nötig sein, sich von der Kirche beim Lesen und Verstehen des Gelesenen helfen zu lassen.
Nur weil sich das Gewissen ständig auf diese „Gottesschrift“ bezieht, hat es eine hoheitliche Autorität gegenüber jedem Menschen: Es treibt ihn an, die Wahrheit zu suchen, also die Gottesschrift zu lesen. Wo Menschen das tun, ergibt sich nicht selten, dass sie den rein menschlichen Autoritäten und Mehrheiten nicht mehr, sondern ihm, dem Gewissen und damit Gott „mehr gehorchen“! Dabei urteilt das Gewissen über die Handlungen jedes einzelnen Menschen, unbekümmert um das, was „man sagt“ und was „alle sagen“!
Was jeder schon erlebt hat: Das Gewissen „beißt“ oder „lässt gut schlafen“, je nachdem, wie der Mensch gehandelt hat, gut oder böse. Diese Erfahrung machen nicht nur Christen, sondern alle Menschen aller Zeiten, wie auch die Literatur der Völker beweist. Diejenigen, die vom Weg Richtung Gott abgewichen sind, also die Sünder, die „verlorenen Söhne und Töchter Gottes“, treibt und begleitet das Gewissen zurück in die Arme des „Vaters“.
Um dem „Gläubigen“ des neuen Lehramtes und des neuen Gewissens das Verstehen zu erleichtern: Das Gewissen lässt sich gut mit einem modernen „Autopiloten“ vergleichen! Er sagt dem Fahrer an, wie er fahren soll, aber manchmal reißt die Verbindung ab mit der Meldung: „Kein Netz, kein Empfang“! Diese Situation entspricht der Gewissenslosigkeit. Manchmal muss man den Autopiloten „Updaten“, damit er die neuesten Veränderungen „weiß“ und wieder richtig führen kann. Das Gewissen „updaten“ sagt man nicht, man spricht aber von Gewissensbildung. Manchmal sagt die Stimme: „Bitte drehen Sie, wenn möglich, um!“, aber sie lässt dem Fahrer dabei die Freiheit, falsch zu fahren.
Auch das Gewissen kann die Sünde nicht verhindern, nur vor ihr warnen. Wenn sich der Fahrer nicht an die Anweisungen gehalten hat, stellt sich das Gerät um und meldet: „Route wird neu berechnet“, ohne dabei das Ziel zu vergessen! So auch das Gewissen: Es versucht weiter und weiter, den Menschen zurück auf den Weg zu Gott zu bringen.
Der Kampf mancher Menschen gegen die Autorität des Gewissens ist immer ein Kampf gegen Gott und ist natürlich nichts Neues in der Geschichte, so wenig neu wie die Sünde überhaupt! Schon Jesaja (5,20f) warnt eindringlich: „Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen; die Finsternis für Licht und Licht für Finsternis erklären; die Bitteres süß und Süßes bitter nennen!“ Den Gewissensbegriff vieler seiner Zeitgenossen beschreibt J. H. Newman so: Mit Gewissen meinen sie nicht, was Gewissen wirklich ist, sondern die „Freiheit eines jeden Menschen, sich über alle seine Ansichten, mögen sie sein wie immer, zu äußern, ohne irgendwelchen Einspruch oder irgendwelcher Einschränkung von Seiten Gottes oder der Menschen.“
Ja, aber ist das so schlimm, könnte man einwenden, besteht nicht Gewissensfreiheit gerade darin, dass niemand bevormundet wird, sondern frei ist zu denken, was er will? Nein, denn Wahrheit, Freiheit und Gewissen lassen sich nicht trennen! Ohne Wahrheit wird Freiheit zur Willkür und Gewissen zu einem „Autopiloten“ ohne Empfang! Darum lehrt die Kirche die „Freiheit des Gewissens“ und verurteilt die „Freiheit vom Gewissen“!
Denn wenn man das Gewissen von der Wahrheit trennt, hört das Gewissen auf zu sein, was es ist. Was bleibt ist ein Auge, dessen Sehnerv zerstört ist. Aber ohne Licht und klares Erkennen degenerieren alle Entscheidungen zu Willkür-Entscheidungen von einzelnen Menschen oder von Mehrheiten. Wenn man Gott ausschaltet, rücken Menschen in das Vakuum ein, das der Hinauswurf Gottes hinterlassen hat. Und wenn Menschen die „Gottesschrift im Herzen“ löschen, ersetzen sie Seine Schrift mit ihrer Schrift, als ob sie besser wüssten, was gut ist, was dem wahren Glück der Menschen dient!
Das hatten wir schon, das führte schon ganz am Anfang der Geschichte zum Tod. Und auch heute noch führt es nicht in neue Paradiese, sondern in immer neue, von Menschen gemachte Höllen, etwa als man den „alten Gott“ mit Sprüchen verhöhnte wie: Das „Gewissen ist eine jüdische Erfindung“ oder „gut ist, was der Partei nützt“! Lernt man aus diesen Erfahrungen? Wenig!
Müssen wir also verzweifeln? Nein. Papst Johannes Paul II. sagt uns nämlich in seiner Enzyklika Evangelium des Lebens: Das Gewissen, dieses „leuchtende Auge der Seele“ und Stimme Gottes, gehört zu dem, was die „Pforten der Hölle“ nie überwältigen können. Niemandem wird es gelingen, „die Stimme des Herrn zu ersticken, die sich im Gewissen jedes Menschen vernehmen lässt!“ Daher: „Von diesem inneren Heiligtum des Gewissens kann immer wieder ein neuer Weg der Liebe seinen Ausgang nehmen!“
Weg in die Freiheit
Wir denken, wir seien erst frei und wahrhaft wir selber, wenn wir nur noch dem eigenen Willen folgen. Gott erscheint als Gegensatz unserer Freiheit. Von ihm müssen wir uns befreien, so denken wir: Dann erst seien wir frei. Dies ist die grundlegende Rebellion, die die Geschichte durchzieht und die grundliegende Lüge, die unser Leben verfälscht.
Wenn der Mensch gegen Gott steht, steht er gegen seine Wahrheit und wird daher nicht frei, sondern entfremdet. Frei sind wir erst, wenn wir in unserer Wahrheit sind, wenn wir eins mit Gott sind. Dann werden wir wirklich „wie Gott“ – nicht indem wir uns Gott entgegensetzen, Ihn abschaffen oder leugnen.
Im ringenden Gebet des Ölbergs hat Jesus den falschen Gegensatz zwischen Gehorsam und Freiheit aufgelöst und den Weg in die Freiheit eröffnet.
Papst Benedikt XVI.
Auszug aus der Predigt am Gründonnerstag 2012 in der Lateranbasilika