VISION 20003/2012
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„Das ist die Wahrheit“

Artikel drucken Edith Stein: Begegnung, nicht mit einem abstrakten Begriff, sondern mit einer Person (Von Manfred M. Müller)

Sie sucht und sucht. Dann, so heißt es in einer Lebensbeschreibung über sie, geschieht folgendes: „...ich holte ein umfangreiches Buch hervor. Es trug den Titel Leben der Heiligen Teresia von Avila, von ihr selbst geschrieben. Ich begann zu lesen, war sofort gefangen und hörte nicht mehr auf bis zum Ende. Als ich das Buch schloss, sagte ich mir: ,Das ist die Wahrheit’.“


Die Rede ist von Edith Stein, der 1998 heiliggesprochenen Karmelitin, die den Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce trug. In einem jüdischen Elternhaus aufgewachsen, verliert die junge Edith früh jegliche religiöse Bindung. Lange Jahre versteht sie sich als Atheistin. Doch trotz ihres Unglaubens bleibt die Unruhe in ihr – die Unruhe der Wahrheitssuche. Als sie, nach langjähriger, streckenweise bis an den Rand des selbstmörderischer Abgrunds führender Suche, endlich nicht eine Wahrheit, sondern die Wahrheit findet, ist zugleich der Weg in die katholische Kirche eröffnet. Sie lässt sich taufen. Sie ist angekommen.
Mir scheint, an Edith Steins Weg zur Wahrheit lässt sich – jenseits biographischer Besonderheiten – Wegweisendes über den Zugang zur Wahrheit vermitteln.
Das Entscheidende: Die Wahrheit wird empfangen. Sie trifft ein und sie trifft. Einer Zeit wie der unsrigen, die das Machen hochhält, mag diese Gebärde der Demut der Wahrheit gegenüber ein Ärgernis sein. Und tatsächlich ist es ein Stein des Anstoßes; freilich ein Stein, der zum Eckstein wird, auf dem sich Stand fassen lässt. Denn das demütige Empfangen befreit von jeglicher Selbstüberhebung. Endlich muss ich nicht mehr selber machen, sondern kann die tiefste Qualität nicht nur des Lebens allgemein, sondern meines Lebens wahrnehmen: dass mein Leben Geschenk ist.
Wo aber ein Geschenk ist, da ist auch ein Schenkender. An Edith Steins beglückender Erfahrung, gemacht in einer Sommernacht, im Haus von Freunden, lässt sich ablesen, dass die Wahrheit gerade kein abstrakter Begriff ist, sondern Person. Lesend begegnet sie dem göttlichen Du, dem großen Schenkenden. Das ändert alles.
Denn diese Begegnung ist in der Tat befreiend. Sie er-löst von den Verstrickungen und Grübeleien in das Eigene. Im Falle Edith Steins erlöst sie endgültig von den verzweifelten Versuchen, mittels eigener Gedankenleistungen den Grund des Lebens zu legen. Ich denke, also bin ich wandelt sich in das „cogitor ergo sum“ (ich werde gedacht, also bin ich). Das Beglückende dabei ist die geschenkte Einsicht, dass der Grund bereits gelegt ist. Und nicht nur dies. Der gelegte Grund ist gut. Mein Leben ist gut, ja mehr noch, mein Leben ist geborgen, denn die Wahrheit ist Liebe. Das aber heißt: Die Wahrheit ist das Du.
Ein Freund von mir hat es auf seine Art erlebt. Er erzählt: „Ich war Mitte dreißig, als ich mich einer Operation unterzog. Am Morgen des OP-Tages wurde die Hautfläche, die operiert werden sollte, routinemäßig rasiert, als Prämedikation bekam ich eine Beruhigungstablette, ich musste mich ausziehen und das OP-Hemd anziehen, das einem Totenkittel nicht unähnlich ist. Dann wurde ich auf meinem Bett liegend in den OP gefahren. An der OP-Schleuse ließ man mich allein. Ein anderer Pfleger, so sagte man mir, würde mich irgendwann in den OP fahren. Dort würde man mir die Vollnarkose geben. Ich lag da und wartete.
Am Vortag hatte ich gebeichtet, man weiß ja nie. Mir ging durch den Kopf, dass ich nichts mehr hatte, nur mehr das OP-Hemd. Aber plötzlich, gänzlich unvermittelt, dort an der Schleuse, auf der Bahre liegend, waren die Worte in mir: Es reicht. Ich hatte nichts mehr, und doch hatte ich alles. Ich war am Leben. Das genügte. Das Leben war alles, pures Geschenk. Alles Weitere war Zu-Gabe. Und diese Wahrheit machte mich glücklich.“
Jeder, der diese Erfahrung als Wahrnehmung macht, geht als Verwandelter aus dieser Erfahrung hervor. Augustinus’ berühmtes Bekenntnis: Unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Dir, bekommt unter diesem Vorzeichen eine größere Deutung. Zum einen ist die Unruhe des Herzens notwendig, um sich auf den Weg zu machen und um auf dem Weg nicht einzuschlafen. Bereit sein ist alles, so nennt es Shakespeare. Mein Freund war bereit. Und Edith Stein war bereit. Sie suchte, und sie hörte nicht auf zu suchen.
Doch die eigentliche Unruhe beginnt erst nach dem Finden. Diese Unruhe ist freilich von anderer Eigenart. Es ist die Erschütterung, die ahnend erkennt, wie unermesslich groß und unermesslich liebend der ist, der sich auf die Suche macht, um den Menschen zu finden.
Man kann es auch so sagen: Mit der Ursünde des Menschen, seiner Vermessenheit, wie Gott sein zu wollen, mit dieser Ursünde wird irgendwann ein jeder in seinem Leben konfrontiert. Wie diese Versuchung sich im einzelnen auswirkt, das hängt vom Lebensschicksal des Einzelnen ab. Die Konfrontation bleibt gleichwohl im Kern dieselbe, das ursprüngliche Wie-Gott-Sein-Wollen will jetzt beantwortet werden – in meinem Leben. Hier stehe ich vor der engen Tür, von der das Evangelium spricht. Und eben mein Suchen und mein Bereitsein hat mich, ob ich es weiß oder nicht, vor diese Türe gebracht.
Und wenn all mein voraufgegangenes Suchen und Bereitsein ein ehrliches gewesen ist, eines, welches die Sehnsucht in mir nicht verleugnet, sondern erhört hat, mit wie kläglichen Mitteln auch immer, dann werde ich jetzt, stehend vor dieser Tür, mich nicht abwenden, sondern bleiben. Ich werde die Ursünde nicht in meinem Fleisch wiederholen, sondern ich bleibe vor dieser engen Tür. Vielleicht ist es ein schweigendes Bleiben, vielleicht ein Schweigen, das noch eine Bitte zustande bringt. Sei es drum.
Jetzt wird der Größere die Führung übernehmen, denn jetzt beginnt das größere Geheimnis. Und dieses Geheimnis, weil es Geheimnis zweier Liebender ist, bleibt Geheimnis. „Mein Geheimnis ist für mich“ (Edith Stein).
Das weitere Leben Edith Steins zeigt einleuchtend, dass die Wahrheit als Liebe zwar einen Ring der Intimität um sich herum legt, aber es nicht bei diesem Ring bewenden lässt, sondern weitere Kreise zieht. Das heißt: Die Wahrheit zeugt. Aus Edith wird Benedicta. An der Verwandelten entzünden sich andere. Ihr Leben wird zum Feuer. Und sie selbst steht bereits in einer Kette der Liebe. Es ist wie beim Staffellauf im Stadion. Das Feuer wird weitergegeben. Jahrhunderte spielen da keine Rolle. Teresa von Avila ist die Schwester im Geiste, die Edith ihre Selbstbiographie reicht. Und Edith verschenkt ihr Erlebtes weiter an andere. So weitet sich der Kreis der Liebe.
Der Gang durch die enge Tür bedeutet freilich nicht das Vorüber sämtlicher Prüfungen; wohl aber die rettende Orientierung des Blicks. Das Herrenwort: Ohne Mich könnt ihr nichts tun, wird nun leitend. Augustinus bemerkt zurecht, Christus habe nicht gesagt, ohne mich könnt ihr nichts vollenden, sondern: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Der Mitarbeiter der Wahrheit will tun, will zeugen, also ist er auch zum Durchkreuzen seiner mangelhaften Perspektiven bereit.
Zu diskutieren, auch dies kann man aus dem Schock der Wahrheitsfindung ersehen, gibt es da nichts. Die Wahrheit ist die Wahrheit. Im Letzten ist sie kein Diskussionsgegenstand, aber auch kein bloßer Erfahrungsgegenstand. Zwar ist sie mit der Vernunft zu deuten und als Erfahrung bleibend, aber sowohl die Vernunft wie die Erfahrung münden ein in das Bindende, das Vernunft wie Erfahrung übersteigt: in das Zeugnis. Das Zeugnis ist der Spiegel, in dem sich der Glanz der Wahrheit individuell bricht.
Eine Frage bleibt: Muss es immer die Wahrheit sein. Hätte es nicht genügt, wenn Edith Stein, nach ihrer durchlesenen Nacht, gesagt hätte: Das ist eine Wahrheit?
Nein, das hätte nicht genügt. Zwar ist die Autobiographie der Teresa von Avila lediglich ein Buch und als solches ein Fragment, gleichwohl hat Edith Stein in diesem Fragment, einer Scherbe gleich, die Wahrheit aufleuchten sehen. Und nur die Wahrheit macht frei. Denn nur die Wahrheit, die Stand gibt und im Gewitter der Meinungen standhält, offenbart mir, wer ich wahrhaft bin, und erst im Angesicht dieser Wahrheit erkennt der Mensch die erschreckende Tatsache der Liebe, die ihn trifft und rettet: dass er in der Tat – allerdings anders, als er es sich je eingebildet hatte – gerufen ist, wie Gott zu sein.
Es gehört zu dieser Wahrheit, die wissende Liebe ist, dass sie bei Bedarf auch den Humor einsetzt, wenn es darum geht, einen Patienten zu bekehren, das heißt zu retten.
Besagter Freund war mit seiner Geschichte nicht zuende. Er fuhr fort: „Und da in mir ein Restzweifel blieb, ob meine Erfahrung wirklich gewesen war, ob sie nicht doch meiner Einbildung entsprungen war, wurde mir zwei Tage später, aufgrund einer unerwarteten Nachblutung, ein zweites Mal das nämliche Procedere geschenkt: OP-Hemd, Narkose, Bahre, Schleuse, Warten. Und was geschah? Nichts. Keine innere Stimme. Keine Erleuchtung. Lediglich die Gewissheit, dass ich mich das erste Mal nicht getäuscht hatte. Die Wahrheit blieb da. Und ich wählte die Wahrheit. Und das genügt, bis heute.“

Dr. Manfred Müller ist Kaplan in der Pfarre Stockerau in Niederösterreich.

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