In meiner ersten Ausbildung in einem Grundbuch- und Vermessungsbüro war mir als Lehrling die Aufgabe zugeteilt, bestellte Katasterpläne zu kopieren und zu verschicken. Eines Tages ruft ein Architekt im Büro an und fragt mich, warum ich ihm die bestellten Pläne nicht geschickt hätte. „Ich habe sie ihnen vor zwei Tagen geschickt“, gebe ich ihm zur Antwort. „Ist das wahr oder lügen Sie?“, fragt er in erregtem Ton. „Es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe, ich lüge Sie doch nicht an.“ Darauf sagt er zu mir: „Junger Mann, ich sage Ihnen etwas: Seit ich selbst lüge, glaube ich keinem Menschen mehr.“ Dann legte er den Hörer auf.
Dieses Erlebnis ist mir heute, nach 45 Jahren, noch so gegenwärtig, als wäre es gestern gewesen. Und in all den Jahren hat sich in mir die Überzeugung verdichtet, dass das „zwischenmenschliche Lügen“ die Hauptursache dafür ist, dass es so wenig Vertrauen gibt zwischen den Menschen, so wenig gegenseitige Wertschätzung, Respekt und Liebe, und auch so wenig Christusfreundschaft, Gotteserkenntnis und Liebe zu Gott.
Im Geistlichen Tagebuch des seligen Papstes Johannes XXIII. finden sich diese schönen Sätze: „Ich danke dem Herrn, dass er mir die besondere Gabe gewährt hat, immer, unter allen Umständen, vor allen, selbstverständlich mit Takt und Liebe, aber in Ruhe und ohne Furcht die Wahrheit zu sagen. Ein paar kleine Unwahrheiten in meiner Kindheit haben in meinem Herzen den Abscheu vor Doppelzüngigkeit und Lüge hinterlassen.“
Die Heiligen lügen nicht, nicht in den geringfügigsten Dingen. Sie sind liebevoll wahr im Reden und Tun, sonst könnten sie nicht heilig sein. „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig.“ (Lev 19,1) Gott ist wahr. Er allein ist in allem, was Er ist, was Er schafft, was Er vorhat (Vorsehung), was Er spricht, was Er uns in Seiner unendlichen Lebensfülle in der Schöpfung zu erkennen gibt, wahr und wahrhaftig.
Es findet sich keine Lüge, kein Hauch der Unwahrheit in der ganzen Schöpfung: nicht in den Tieren, den Blumen, den Pflanzen, den Bächen und Flüssen, nicht in den Bergen und Sternen – wo immer wir hinschauen.
Die Lüge findet sich nur bei uns Menschen. Mit einer Lüge hat im Paradies das ganze Menschenelend angefangen. Darum „sollst du nicht lügen“ (Dekalog). Darum sind „lügnerische Lippen dem Herrn ein Gräuel“ (Spr 12,22). Darum „ist am Menschen die Lüge ein schlimmer Schandfleck“ (Weis 20,24). Darum „tötet der Mund, der lügt, die Seele“ (Weis 1,11). Von Rabbi Bunam stammt das Wort: „Ich kann alle Sünder zur Umkehr bringen, nur die Lügner nicht.“ Dante erkennt die Lügner in der Hölle daran, dass sie kein Gesicht haben. Die Lüge nimmt uns das Gesicht, setzt uns eine Maske auf, während die Wahrheit uns ein Gesicht gibt, ein wahres, schönes, strahlendes, göttliches.
Wenn wir von Jesus Christus sagen, in Ihm sei Gott Mensch geworden, so können wir gleicherweise sagen: In Ihm ist die Wahrheit Mensch geworden. Darum sagt Christus von sich selbst: „Ich bin die Wahrheit. Und: Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (vgl Joh 14,6; 8,32). Ich bin die Wahrheit in meiner Person. Berührt mich, fasst mich an, und ihr werdet die Wahrheit fühlen. Der Evangelist Johannes sagt es so: „Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsre Hände angefasst haben, das verkündigen wir!“ (1 Joh 1,1) Bei einer Auseinandersetzung mit Seinen Gegnern sagt Jesus: „Ihr wollt mich töten, weil ich euch die Wahrheit verkünde.“ (vgl Joh 8,40)
Wir Menschen ertragen von Natur aus die Wahrheit nicht, weil sie Licht ist und unsere geheime Bosheit, Unwahrhaftigkeit, unsere Abgründe und dunklen Verließe aufdeckt. „Das Licht kam in die Welt, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; denn ihre Taten waren böse.“ (Joh 3,19) Zwei Mächte sind es, die sich die Welt teilen: Die Wahrheit – und die Lüge. Je mehr wir die Wahrheit lieben und sie im Leben suchen und tun, umso näher kommen wir dem lebendigen Christus und werden seine Freunde. Und je näher wir Christus sind, umso mehr verabscheuen wir die Unwahrheit, die Lüge.
Es gibt für den, der zu Christus gehören will, der heilig leben will, keine Vermischung von Wahrheit und Lüge. Wenn immer die Lüge in eine Seele gleitet, entschwindet die göttliche Liebe. Hingegen herrscht da, wo Christus im Menschen ist, die Wahrheit, ja, der Abscheu vor der Lüge, selbst der unbewussten Falschheit. Die größten Feinde Christi sind daher die Lüge und der Mangel an Aufrichtigkeit, die so viele Seelen lähmt und sie ins Netz der bösen Mächte geraten lässt.
Wir durchleben heute eine Epoche, wo die Lüge fast alle menschlichen Bereiche – ja vieles, was sich heute Religion und Kirche nennt – durchsetzt, ja imprägniert hat. Schon in der Zeit des Nationalsozialismus schrieb die Jüdin Simone Weil: „Der Geist der Wahrheit ist heute in Religion und Wissenschaft, ja auf allen geistigen Gebieten kaum noch anzutreffen. Die grässlichen Leiden (Krieg, Auschwitz), deren wir uns nach allen Seiten zu erwehren versuchen, ohne dass es uns nur gelänge, ihre ganze Tragik zu empfinden, kommen einzig daher.“
Die Wahrheit Gottes hat in unserer Welt einen Gegenspieler, einen Engel, der in der Wahrheit nicht bestanden hat, der aus dem Bereich Gottes herausgefallen ist. Christus nennt ihn „den Vater der Lüge“. In einem Streitgespräch mit gegnerischen Juden sagt Jesus: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt, denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge.“ (Joh 8,55).
Drei Meinungsforschungsinstitute sollen voneinander unabhängig herausgefunden haben, dass der Mensch durchschnittlich 200 Mal am Tag lügt. Das klingt nach viel. Aber wir verdrängen gerne, dass auch täuschen, beschönigen, die Wahrheit verbiegen, die Wahrheit unterschlagen, schweigen, wo wir reden müssten und so weiter, Lügen sind. Man schwindelt da ein bisschen, mogelt sich durch unangenehme Situationen, übertreibt beim Erzählen von Erlebnissen und ist sich nicht bewusst, dass man dem Geist der Lüge die Türe öffnet.
Wir Menschen sind – ohne dass wir es merken und wahrhaben möchten – oft viel mehr Kinder der Lüge als der Wahrheit. Und das trifft nicht nur auf die zu, die nicht an Gott glauben. Nein, auch wir Christen lügen. Je mehr Schwäche, umso mehr Lüge. Und mit jeder Unwahrheit, die wir aussprechen und tun, geben wir dem Teufel mehr Macht über uns. Es wäre darum eine höchst heilsame Schule für uns alle, wenn wir damit anfingen, uns einer gründlichen Selbstbeobachtung zu unterziehen!
Ja, ich erachte nach jahrelanger Beobachtung und Seelsorgeerfahrung diese strenge Selbstprüfung für den notwendigsten Schritt zu wirklicher innerer Umkehr und zur Erneuerung in der Kirche. Denn solange wir dem Geist der Lüge fast ungehindert so große Macht über uns einräumen, kann der Geist der Wahrheit nicht in uns sein. Der Geist kann nicht in uns und durch uns ungehindert ausstrahlen und in Seine Kirche wirken. Wir glauben zwar, dass wir glauben, ja, wir halten uns für gute Christen, auch wenn wir es hie und da mit der Wahrheit, der lebendigen Wahrheit, nicht so genau nehmen – doch auch das ist nur eine Folge des Lügennebels, in dem wir uns befinden.
Wer viel mit Menschen zu tun hat, weiß, wie verheerend, ja zerstörerisch der Geist der Lüge in den Seelen der Menschen wirkt, in den Familien, in der Partnerschaft, in den Seelen der Kinder, in Freundschaften, unter Geschwistern, in der Nachbarschaft, von der großen Welt der Politik, der Wirtschaft, der Medien, der Werbung, des Versicherungswesens, der Rechtsprechung ganz zu schweigen.
Wie viel „Notlügen“ setzen wir fast unbekümmert ein: aus falschen Menschenrücksichten, aus Feigheit, Angst, Bequemlichkeit – oft noch in Gegenwart der eigenen Kinder –, wo doch die ewige Wahrheit uns solches verbietet! Wie viel Wahrheit wird verdreht und entstellt, um eigene Interessen durchzusetzen. Wie wird gemogelt und gedrechselt, wenn es bei Erbschaften, Steuern, Versicherungsfällen ums Geld geht. Was täuschen erwachsene Kinder ihren alten betagten Eltern oder Angehörigen vor, wenn sie diese aus dem Haus haben wollen, weil das Haus doch so viel lukrativer genutzt werden könnte! Wie viel Unwahrhaftigkeit am Krankenbett und wenn es um den Letzten Willen der Eltern geht! Wie viel Wahrheit wird verschleiert, verschwiegen, unter Verschluss gehalten (in Familien nicht selten über Generationen), die notwendig ausgesprochen werden müsste, damit Heil und Heilung geschehen könnte!... Und wir wundern uns, wenn der Segen des Himmels und die Güter der Freude und der Liebe sich zurückziehen.
Das wohl Schlimmste ist, wenn es Eltern vor ihren eigenen Kindern mit der Wahrheit nicht ernst nehmen. Wie sollen Kinder später zur lebendigen Wahrheit finden, zum lebendigen Herrn und Heiland, wenn sie schon früh das „Milieu der Lüge“ in sich aufgenommen haben? Ich möchte Ihnen, liebe Eltern, zum Schluss noch ein Wort des großen Pädagogen Fr. W. Foerster mitgeben, der sich in seinem Erziehungswerk ein Leben lang um die christliche Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Erziehung bemüht hat. Er schrieb schon vor einigen Jahrzehnten den Eltern:
„Der Maler Fra Angelico soll stets gebetet haben, bevor er zum Pinsel griff, um seine himmlischen Gestalten zu malen. Wie viel mehr müssen wir beten, um lebendige Menschen zu bilden – wie müssen wir uns reinigen von unserer verborgensten Unlauterkeit, um die verborgenste Lauterkeit im Kinde zu wecken! Wie müssen wir uns sammeln und eins machen mit der göttlichen Wahrheit, damit unser Wort das Göttliche im jungen Herzen treffe! – Viele Erzieher zerbrechen sich den Kopf über die besten Heilmittel für Kinder, die lügen. Leider vergessen sie oft das erste und wichtigste Mittel: dass sie ihre eigenen täglichen Aussagen einmal unter ganz scharfe Kontrolle nehmen. Da werden sie sie dann nicht selten zu ihrem Schrecken entdecken, dass sie zwar keine Lügner sind, aber doch in einer Stunde oft sechzig kleine Unwahrheiten sagen. Da mögen sie dann die Wahrheit mit Engelszungen preisen – das Kind hält sich an den Widerruf, der von der Praxis ausgeht, und gewöhnt sich daran, dass alle hohen Dinge nur im Liede gefeiert, aber in der Anwendung verunreinigt werden.“
Erforsche allzeit in der Wahrheit des Heiligen Geistes dein Herz, so wird dir jede Lüge wahrhaft zuwider; Lügen nämlich vertreiben die göttliche Liebe, und sie festigen im Herzen verborgene Falschheit, Hass und Zorn. (Mechthild von Magdeburg)
Urs Keusch