Am 16. April 2012 feierte Papst Benedikt XVI. in Rom seinen 85. Geburtstag. Drei Tage später wurde des siebenten Jahrestags seiner Wahl zum Nachfolger Petri gedacht. Eine Würdigung:
Journalisten in aller Welt unternahmen in Leitartikeln den Versuch, eine Zwischenbilanz des jetzigen Pontifikats zu geben. Zumindest in einem waren sich die Papstexperten einig, nämlich darin, dass „Papa Ratzinger“ kein Übergangspapst ist, sondern ein Papst der rasch sein eigenes Profil gefunden hat.
In den deutschsprachigen Medien war wieder von Restauration und einer Rückwärtsentwicklung, von einem Pontifikat von schweren Pannen und Konflikten die Rede. Dem widerspricht Peter Seewald, ein ausgewiesener Papstkenner, der 2010 mit seinem Interviewband mit Benedikt XVI. Licht der Welt einen Welterfolg gelandet hatte, in einem Interview mit der katholischen Internetzeitung kath.net. Das Pontifikat Benedikt XVI. zeichne sich nicht durch Restauration aus, sondern führe zu einer Renaissance des christlichen Ursprungs, der Wiederentdeckung der Schönheit und der Freiheit des christlichen Glaubens und zur Freude an ihm.
Für den Papst gehe es vor allem um zwei Themen, nämlich um Wahrheit und Liebe, wobei es für ihn keine Liebe ohne Wahrheit und keine Wahrheit ohne Liebe geben kann: „Benedikt XVI. ist einer der demütigsten Päpste überhaupt. Für ihn sind Gewaltlosigkeit und Liebe die größte Kraft, die auf Erden wirken kann. Mit ihm entledigt sich das Papsttum von falschen Attributen, von Machtgehabe. Ja, hier ist sogar einer, der von seiner Kirche die Machtlosigkeit, das Aufgeben von Privilegien geradezu einfordert.“
Seewald greift dabei das Wort des Papstes von der Entweltlichung der Kirche auf und erinnert daran, dass Joseph Ratzinger dieses Wort bereits 1958 gebraucht hatte. Der Papst meine damit, nicht etwa eine Abwendung von den Menschen, sondern die Abkehr von der Macht, von „Mammon, von der Kumpanei, vom falschen Schein, von Betrug und Selbstbetrug“. Diese Abkehr sei notwendig, damit der Glaube wieder seine Wirkstoffe entfalten könne.
In dieselbe Kerbe schlägt Paul Badde, Romkorrespondent von Die Welt, in einem Artikel zum Geburtstag des Petrusnachfolgers. Ratzinger sei immer ein Außenseiter geblieben, „Strippenziehen, Hausmächte um sich zu sammeln und Netzwerke zu seinem Vorteil zu knüpfen“, all dies habe er nie gelernt, weder als Erzbischof von München noch als Chef der Glaubenskongregation in Rom. Es sei seinem Wesen fremd.
Peter Seewald weist außerdem auf die inhaltliche Aufwertung des Papsttums hin: „Die Menschen suchen Halt, einen geistlichen Vater, dem sie vertrauen können und dessen Wort verlässlich ist. Baut nicht auf Sand, hatte Jesus geraten, baut auf den Fels.“ Der Papstbiograph erinnert daran, dass es heutzutage die Angst gibt, nicht genügend konform zu sein. Man wolle von überall schmeichelhafte Feedbacks bekommen, auch wenn das auf Kosten der Wahrheit oder der Fairness geht. Der Papst widerstehe dieser Versuchung: „Insofern ist er unbequem, unangepasst und in der Tat nicht im Mainstream der Moden. Für ihn lautet die Frage nicht: Was ist zeitgemäß? Sondern sie lautet: Was ist zukunftsgemäß? Wie gelingt es, überhaupt noch Zukunft zu haben?“
Ist das nicht gerade die große Versuchung, der die Kirche im deutschsprachigen Raum immer wieder unterliegt? Wie die letzten Monate in der Kirche Österreichs schmerzlich gezeigt haben, befinden wir uns ständig in der Gefahr, den bequemeren, angepassten und leichteren Weg zu gehen. Benedikt XVI. macht uns vor, wie auch die großen Probleme der gegenwärtigen Epoche mit Mut, Vertrauen, Stärke und Gelassenheit gelöst werden können.
Auf die Frage, ob der Papst zeitgemäß genug sei, antwortet Seewald: „In einer Zeit, in der die intellektuelle Klasse abgewirtschaftet hat und die öffentliche Diskussion immer dünner wird, trägt der Stuhl Petri einen ausgesprochenen Intellektuellen. Einen jedoch, der bei rein rationalem Denken nicht halt macht, sondern zeigt, wie aus der Symbiose von Wissenschaft und Glaube dann Weisheit, Schönheit, Wahrhaftigkeit entstehen.“
Bei Benedikt geschehe alles ganz nach demselben Motto, das er zu seiner Priesterweihe gewählt hat, alles im Dienen: „Nicht Herren eures Glaubens sind wir, sondern Diener eurer Freude.“
Diese Sichtweise bestätigt auch Kardinalsstaatsekretär Tarcisio Bertone, der über Benedikt XVI. sagt, dass er nicht im Stil eines starken Anführers, sondern eines milden und dialogischen Freundes arbeite. Bertone erinnerte zum Papstjubiläum daran, dass das von den Medien gezeichnete „Bild eines Panzers“ völlig aberwitzig und verfälschend sei. Tatsächlich sei der Papst ein sanfter Mensch.
Joseph Ratzinger. war einer der bedeutendsten Konzilstheologen und hatte ohne Zweifel einen großen Anteil an wichtigen Dokumenten des 2. Vatikanischen Konzils. Er ist heute der authentische Interpret dieser Kirchenversammlung. Immer wieder spricht er dabei von einer „Hermeneutik der Kontinuität“ im Gegensatz zu jenen, die das Konzil als einen Beginn einer völlig neuen Kirche sehen. Jenen, die von einer konservativen Wende unter Benedikt XVI. sprechen, hält Peter Seewald entgegen, dass Joseph Ratzinger immer „mittig“ war, „der junge ist wie der alte, und der alte wie der junge.“
Als Benedikt XVI. nach dem langen und großen Pontifikat von Papst Johannes Paul II. gewählt wurde, war von einem beginnenden Doppelpontifikat die Rede. Diese beiden Pontifikate scheinen sich nach den Worten Seewalds auch perfekt zu ergänzen: „War der eine Papst eher ein Mann des Bildes, so ist der andere eher ein Mann des Wortes. Und wenn Johannes Paul II. in stürmischer Zeit die feste Burg schuf, um die Stürme abzuwehren, baut Benedikt XVI. wieder auf, was im Inneren der Burg kaputtgegangen ist. Er setzt dabei ganz auf die Hilfe Gottes und nimmt den Vorwurf in Kauf, er mache zu wenig nach außen.“
Ich muss gestehen, dass mir das Bild, das Seewald hier verwendet außergewöhnlich gut gefällt. Es lässt die tiefe Symbiose, die beide Päpste verbindet, in besonderer Weise sichtbar werden. Johannes Paul II. trat in den Jahren nach dem Konzil, in denen sich eine große Verunsicherung über Fragen des Glaubens in der Kirche breitgemacht hatte, als der unermüdliche und unerschrockene Kämpfer auf. Mit seinem Stil revolutionierte er nicht nur das Papstamt, sondern auch das gängige Kirchenbild. Er trug das Evangelium bis an die Enden der Erde und schrieb so eine neue Apostelgeschichte für die Kirche.
Das „Fürchtet Euch nicht!“ bei seiner Amtseinführung wirkte wie eine Mutinjektion für eine Kirche, die sich vor allem hier im Westen stark dem Zeitgeist angepasst hatte. Das größte Wunder jener Epoche war die Idee der Weltjugendtage, mit denen Johannes Paul II. einer schon verloren geglaubten Jugend die Schönheit des Glaubens wieder neu sichtbar machte. Ganz im Sinne des 2. Vaticanums schärfte Johannes Paul der Große mit seinen Enzykliken, dem Katechismus der Katholischen Kirche, sowie den zahlreichen Selig- und Heiligsprechungen das Profil der Kirche an der Jahrtausendwende.
Papst Ratzinger greift dieses geistige Erbe auf, um es weiter zu vertiefen. Wie ein Bildhauer legt er frei, was verschüttet war, und führt so immer tiefer in den geistlichen Schatz der Kirche. Benedikt XVI. geht es dabei nicht um seine eigenen Ideen, sondern um das konkrete heilsgeschichtliche Wirken Gottes. Er führt in allen seinen Initiativen immer von sich weg, hin zu Christus. Und so kommt, wie Seewald schreibt, in einem scheinbar nichtgeschichtlichen Pontifikat die heilsgeschichtliche Prägung der Epoche zum Ausdruck, gerade weil nicht mehr der Vikarius Christi mit Macht im Vordergrund steht, sondern Christus selbst.
Benedikt XVI. schont sich nicht. Er nimmt für einen 85-jährigen noch unglaublich anstrengende Reisen auf sich, um den Gläubigen auf allen Kontinenten nahe zu sein. Auf einer siebentägigen Reise hat er zuletzt Mexiko und Kuba besucht, zwei politisch hochsensible Länder. Ich durfte ihn auf seinen Reisestationen in Kuba als Fotograf begleiten. Schon der Besuch Johannes Pauls II. hat auf der Karibikinsel ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen dem kommunistischen Staat und der Kirche geschrieben. Die Visite Benedikt XVI. wird meinem Eindruck nach den Katholiken in Kuba weitere Freiheiten bringen, die vor wenigen Jahren noch undenkbar schienen.
Die Predigt bei seiner Amtseinführung am 24. April 2005 halte ich für charakteristisch für sein ganzes Pontifikat. Er sprach davon, dass den Hirten die heilige Unruhe Christi beseelen muss, dem es nicht gleichgültig ist, dass so viele Menschen in der Wüste leben. Er sprach von der Wüste der Armut, der Wüste des Hungers und des Durstes. Es gäbe aber auch die Wüste der Verlassenheit, der Einsamkeit, der zerstörten Liebe, die Wüste des Gottesdunkels und der Entleerung der Seelen, die nicht mehr um die Würde und um den Weg des Menschen wissen. Die äußeren Wüsten wachsen in der Welt, weil die inneren Wüsten so groß geworden seien.
Kann man den geistigen Zustand unserer Epoche treffender beschreiben? Der Papst erinnerte daran, dass der wahre Hirte der Menschen, der wahre Gott, selbst zum Lamm geworden ist. In den sieben Jahren seit seiner Wahl hat Benedikt XVI. furchtlos seine Schafe gesucht, gerade jene, die sich verlaufen oder im Gestrüpp des Zeitgeistes verfangen haben.
„Weiden heißt lieben, und lieben heißt auch, bereit sein zu leiden.“ Diese Worte, die der Papst am Beginn seines Pontifikats gesprochen hat, scheinen sich immer mehr auch an ihm zu erfüllen. So erinnerte er während einer Feierstunde anlässlich seines Geburtstages daran, dass er so wie er nun vor ihnen stehe, vor dem Herrn hintreten muss eines Tages: „Ich stehe vor der letzten Wegstrecke meines Lebens und weiß nicht, was mir verhängt sein wird, aber ich weiß, dass das Licht Gottes da ist, dass Er auferstanden ist.“
Wie Paul Badde schreibt, steht Benedikt XVI. dabei furchtlos im „Lebenslänglich“ seines Amtes. Beten wir für den Papst mit den Worten, die er bei der Amtseinführung gewählt hat, dass er die heilige Kirche, jeden einzelnen und alle zusammen immer mehr lieben lernt: „Betet für mich, dass ich nicht furchtsam vor den Wölfen fliehe.“
Christoph Hurnaus