Das Leben wird zunehmend anonym. Viele kennen kaum mehr ihre Nachbarn, verbringen wenig Zeit mit der Familie. Jeder lebt für sich. So findet die Not der Mitmenschen nur wenig Gehör, ja man weiß oft gar nichts von ihr. Ein Aufruf, an einer Kultur der Mitmenschlichkeit zu bauen.
Wir brauchen eine neue Kultur des Mitfühlens und Mitleidens, damit wir nicht eine Generation der „Unberührbaren“ werden. Denn die Teilnahmslosigkeit am Leben des Mitmenschen ist tödlich, ist „Nichtsein“. Der Mensch ist nämlich wesentlich auf Mitmenschlichkeit angelegt. Seine Entfaltung gelingt nur in der Hinwendung zum Mitmenschen. Kein anderer Weg führt zur wahren Entfaltung des eigenen Wesens.
Hildegard von Bingen sagt: „Pflege das Leben, wo du es triffst!“ Die Aussagen dieser weisen Frau sind eine eindeutige Wegweisung, aus dem Egoismus herauszutreten. Wir haben zur Umsetzung dieses Rates heute sicher Phantasie nötig.
Ein Mann um die 40, ohne Familie, ohne Kontakte in seinem Umfeld, wird tot in seinem Zimmer gefunden. Der Pfarrer des Ortes erfuhr davon. Er fasst seine Betroffenheit in folgende Worte: „An dem Tod bin ich mitschuld. Fast täglich bin ich ihm begegnet, nie habe ich ihn angesprochen und gefragt, wie es ihm geht…“ Versäumnisse menschlicher Zuwendung sind eine große Schuld.
Ein Mann, geplagt von Depressionen – ich kannte ihn gut – klopfte an eine Haustür – ich sah ihn aus einiger Entfernung – aber niemand öffnete. Offenbar war niemand zu Hause. Ich vermied, mit ihm zusammenzutreffen, meinte, gute Gründe dafür zu haben. Am nächsten Tag erfuhr ich, dass er Selbstmord begangen hatte. Es traf mich tief. Warum war ich nicht auf ihn zugegangen? Er hatte noch einen letzten Versuch gemacht, in seiner verzweifelten Lage eine menschliche Begegnung zu erreichen, die ihm tragischerweise nicht mehr gelang. Ich war mir bewusst, dass im suizidalen Geschehen zuletzt noch ein Kontakt gesucht wird, ehe sich die Schlinge zuzieht, die bereits um den Hals liegt. Es war zu spät.
Meine Argumente: Zeitdruck, erfolglose Gespräche mit dem Mann. Ja, er war schwierig, aber größer war seine Not… – Es nützte nichts mehr, ich hatte Wesentliches versäumt, es war nicht mehr nachholbar.
Ich investierte alles in den Rest der Familie, habe ihr misslingendes Leben mitgelitten: Sie waren Alkoholiker und starben auch daran, die Frau an einem Aneurysma, Folge ihres Alkoholkonsums. Es war ein Mitbetroffensein im Unheil. War es alles nur Mißerfolg? Sie starben ausgesöhnt, im Frieden. Der jüngste Sohn überlebte, weil er sich vom Alkohol fernhielt. Mein Betroffensein hat mich auf einen Zusammenhang über den Tod hinaus verwiesen.
Wie wird man „mitmenschlich“? Wohl nur in kleinen Schritten, in Augenhöhe: Offen, in aufrichtiger Wertschätzung für den Anderen, ihm im Kontakt den Vorrang gebend. Genau das meint Paulus, wenn er den Christen seiner Gemeinde nahelegt, zuerst das Wohl des anderen zu bedenken und erst dann das eigene. Ich muss ihn mit dem Herzen sehen („Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt Antoine de Saint-Exupéry).
Wie ist das zu verstehen: „mit dem Herzen sehen“? Ich schaue und horche auf den Anderen und lasse meine Gedanken zunächst schweigen, stelle sie zurück. Denn ich muss ausschließlich den anderen sehen, auf ihn horchen und darf eigene einschätzende Gedanken nicht dazwischen schieben. Ich darf den Blick auf den anderen nicht mit Projektionen verzerren oder mit Wunschvorstellungen die Sicht verbauen. Ich muss den Blick auf ihm ruhen lassen, das Ohr offen für ihn, um ihn zu hören, ohne zu beurteilen, ohne abzuwerten, ihn vielmehr in gesammelter Ruhe schauen, hören, auch wortlos zu mir sprechen lassen.
Philip Dessauer schreibt in seinem Buch Die naturale Meditation: Ein Kind sitzt am Weg, vor seinen Augen am Waldrand ein äsendes Reh. Das Kind schaut – sein Blick schaut offenen Auges das Reh. Was geht in diesem Kind vor? Es erkennt nicht eine Gestalt, es stellt nicht die Farbe des Felles fest, es verursacht kein störendes Geräusch, ein ruhender Blick: Das Kind schaut das Reh in seiner „Rehheit“, das Reh „offenbart“ sich dem schauenden Kind.
Können wir den Blick auf jemandem ruhen lassen, damit wir den erkennen, der in unser Blickfeld getreten ist? Das eigene Verhalten im Umgang mit Menschen zu hinterfragen, ist notwendig, weil es dem Aufbau des Friedens dient. Können wir ihn hören, ihn schauen? Dann sehen wir diesen Menschen womöglich anders, echter, authentischer, einmalig in seiner Würde, als jemanden, der Achtung und Wohlwollen verdient. In solcher Art zwischenmenschlicher Begegnung wird es möglich wahrzunehmen, wessen der andere bedarf: Einer Ermutigung, einer Stärkung seiner Zuversicht, eines Ankers für seine Hoffnung – oder eines Menschen, der ihm seine Last tragen hilft, der vielleicht für ihn eine Tröstung bedeutet. Die Begegnung soll der Mitmensch als aufbauend empfinden. Sie wird aber auch dem, der sich dem anderen zugewendet hat, das Herz weit machen. Dann wird es möglich, dass Freude spürbar wird, dass sie ihre Schwingen ausbreitet und den Bedrückten aufnimmt.
Wenn ich dem anderen mit dem Herzen begegne, ist er kein versachlichtes menschliches Gegenüber mehr, sondern es kommt eine unsichtbare, aber umso wirksamere geistige Bewegung zustande, die den Hilfesuchenden aufbaut und dem der zur Hilfe bereit ist, das Herz weit macht.
Einmal kam in meine Sprechstunde eine Frau, die randvoll mit Sorgen war. Sie sprach und sprach und die Sorgen kamen wie rollende Steine auf einem Abhang aus ihr heraus. Nach einer kleinen Pause – die Frau hielt inne und unsere Blicke „schauten sich in die Augen“ –, stand sie plötzlich auf und sagte mit fester Stimme: „Jetzt weiß ich, was ich tun werde und wie es weitergehen kann. Danke, dass sie mir so lange zugehört haben.“
Nach diesem Gespräch verstand ich, dass Zuhören mit dem Herzen deutlicher spricht als viele Worte. Sie war offensichtlich erleichtert, wirkte mutiger, denn sie fühlte sich in der Lage, ihr Problem erneut selbst fest in die Hand zu nehmen. Sie hatte sozusagen neue Horizonte gewonnen.
Was war passiert? Im Zuhören hat sich die Last auf vier Schultern verteilt. Die Frau wusste nun, dass sie mit ihrem Problem nicht mehr allein ist und das hat ihre Belastung sozusagen halbiert. Wenn sich in solcher Weise Hilfe realisiert, muss ich mir meiner Verantwortung bewusst sein, dass nunmehr Treue erforderlich ist, Treue gegenüber dem Hilfesuchenden. Denn nichts wird schrecklicher empfunden, als heute Beachtung gefunden zu haben und morgen nicht mehr gesehen zu werden.
Was ist für mich die Kraftquelle zum Durchhalten und gibt mir gültige Orientierung für meine Motivation? Es ist ein zuverlässiges Wort, das in der Bibel steht: „Einer trage des anderen Last.“ Und: „Gott trägt unsere Last.“ Dieses Wort schreibt Paulus an die Galater. Es ist ein Wort absoluter Wahrheit. Ich muss mich eben dafür entscheiden. Denn dem Anderen die Last tragen zu helfen, ist ein Geschehen, das ich nicht der Beliebigkeit ausliefern darf. Es verlangt von mir Bejahung meines Nächsten und ein aufrichtiges Wohlwollen, damit meine Motivation tragfähig ist. Diese Haltungen schüttelt man nicht einfach aus dem Handgelenk. Wir müssen sie geduldig einüben. Der Mitmensch ist es wert.
Nicht von Liebe reden, sondern die Liebe zum Nächsten tun. Haben wir den Mut zu kleinen Schritten! Ein afrikanisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Wenn viele kleine Menschen, in vielen kleinen Dingen, viele kleine Schritte tun, verändern sie die Weit.“ Auf diese Schritte kommt es an.
Maria Loley ist Begründerin der „Bewegung Mitmensch“. Sie war Fürsorgerin, Familienberaterin und hat sich große Verdienste im Bereich der Flüchtlingshilfe erworben.