VISION 20004/2012
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Hat jeder eine Berufung?

Artikel drucken (P. Nicolas Buttet)

Hat jeder eine Berufung? Die Antwort ist: Ja. Man muss da jedoch zwei Ebenen – mit unterschiedlicher Bedeutung – auseinanderhalten. Die erste betrifft die Berufung der Getauften. Was das betrifft, sind wir alle zur Heiligkeit berufen, für das Glück geschaffen, für die Seligkeit, das heißt für die Got­tesschau. In welchem Stand, in welcher Lebenssituation auch immer, wir sind gerufen, so zu lieben, wie Christus uns geliebt hat. Auf diesen Anruf zu antworten, ist unsere Pflicht: Das ist unsere besondere Berufung als Getaufte, unsere Freude, unser Heil!
Die zweite Ebene betrifft unsere Berufung, im Sinn von Plan Got­tes für unser Leben. Hier kommt es zum geheimnisvollen und wunderbaren Zusammenwirken von göttlicher Initiative und menschlicher Freiheit. Erinnert sei an den reichen Jüngling, den Jesus so liebevoll betrachtet hatte: „Wenn du vollkommen sein willst…“ Jedem Anruf Gottes – denn es gibt ihn – geht ein „Wenn“ voraus, das die Freiheit des einzelnen ganz respektiert.
Um diesen Anruf Gottes also zu hören, muss man sich jene Haltung zu eigen machen, die Ignatius von Loyola und Franz von Sales als „Indifferenz“ bezeichnen. Sie ist die feste Entschlossenheit, den Willen Gottes unter allen Umständen und im Gegenwind zu erfüllen. Sie lässt uns etwa so beten: „Ob verheiratet oder im geweihten Leben, ob hier oder anderswo, das ist mir egal, Herr! Mir geht es um Dich! Ich weiß: mein Glück hängt nicht von meinem Lebensstand oder meiner Tätigkeit ab, sondern von der Verbundenheit mit Dir! Ich suche nur das Eine: verfügbar zu sein, um Dir zu dienen, denn Du allein kannst die tiefste Sehnsucht meiner Seele stillen.“
Ignatius erklärt: Wer einen Lebensweg gewählt hat, ohne diese Haltung der „Indifferenz“, der möge dieser Entscheidung treu bleiben. Er ergänzt allerdings: „Viele begehen den Irrtum, eine solche Entscheidung für einen göttlichen Anruf zu halten…“
Ignatius macht die Tatsache deutlich, dass es Lebensentscheidungen gibt, die – obwohl es sich durchaus um gute Entschlüsse handelt – nicht als „göttliche Berufung“ anzusehen sind. Wenn nun jemand seinem Impuls folgt, ohne vorher den inneren Weg der „heiligen Indifferenz“ gegangen zu sein, so wird sein Leben eben eine persönliche Entscheidung und nicht eine „Berufung“ im eigentlichen Sinn sein.
Angemerkt sei, dass man auf diesem Weg selbstverständlich zur Heiligkeit gelangen kann.
Bleibt noch zu zeigen, wie es Gott anstellt, um uns Seinen Willen kundzutun, wenn diese „heilige Indifferenz“ im Gefolge einer Reinigung der Sinne erworben worden ist.
Da darf uns jetzt nicht unsere Fantasie durchgehen! Es gilt dann, in aller Ruhe und Einfachheit offen zu bleiben für das Geschehen im Alltag: eine Begegnung, ein Ereignis, die Lektüre eines Buches… Sind sie von einer inneren Bewegung begleitet, kann diese der Beginn eines Weges der „Berufung“ im weiteren Sinn sein. Und auf diesem wird sich immer die Begleitung durch einen Seelenführer bewähren.

Aus Famille Chrétienne v. 28.4.12

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