VISION 20004/2012
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Man tötet Gott nicht ungestraft

Artikel drucken Wie kann Gott das Leiden zulassen?

In Europa wird Gott mehr und mehr aus der Öffentlichkeit eliminiert  –  ein Geschehen, das von fal­schen philosophischen Vorstellungen aus­geht und gravierende Folgen haben wird, stellt der Philosoph, Bertrand Vergely, Autor mehrerer Bücher, fest.

Sie schreiben in Ihrem Buch Le silence de Dieu face aux malheurs du monde, dass Gott politisch unkorrekt geworden sei…
Bertrand Vergely: Die Denker des 18. Jahrhunderts dachten, Gott sei eine Illusion. Heute sind jene, die ihn an den Pranger stellen, der Ansicht, dass man Ihn ächten müsse. Gott entspricht nicht den menschlichen Normen. Es gibt ihn nicht, weil er nicht verdient zu existieren. Was die Leugnung Gottes betrifft, hat nun die Moral der Wissenschaft den Rang abgelaufen. Statt Fakten ins Treffen zu führen, argumentiert man mit dem Recht. Es gibt einen neuen Atheismus: nicht mehr den wissenschaftlichen, sondern den juristischen. Wegen all dessen, was auf Erden schon passiert ist und sich immer noch ereignet, verdiene Gott nicht zu existieren. Die Todesstrafe wurde zwar allgemein abgeschafft, aber nicht für Gott.

Ist Gott also ein Sündenbock, der nicht antwortet?
Vergely: Ja. Nur tötet man Gott nicht ungestraft. Wenn er tot ist, muss man Ihn ersetzen. Das geschieht dadurch, dass man den Menschen dazu drängt, Gott zu werden. Abgesehen davon, dass dies eine Nötigung darstellt, ist es auch falsch… Der Tod Gottes hier im Westen bringt schwere Bedrohungen für die Welt und für die Zukunft mit sich.

Leidet Ihrer Meinung nach der intellektuelle Diskurs über dieses Thema an Schamlosigkeit?
Vergely: „Was ist das für ein Gott, der die Gazellen dem Tiger und die Kinder dem Krebs ausliefert?“, fragt Comte-Sponville. Viele zeitgenössische Texte  sind ergreifende Schmerzensschreie. Und dennoch stört mich etwas an ihnen. Darf man sich des Leidens der Welt bedienen, um aus ihm ein Zeichen der Nicht-Existenz Gottes zu machen? Wenn die Menschheit leidet, sollte man die Größe haben, unsere Auseinandersetzungen zu beenden. Es ist wirklich ein Jammer, wenn man dann Stimmen hört, die feststellen: Dem Menschen geschehe schon recht, er hätte eben nicht sündigen sollen, und jetzt sollte er sich bekehren. Aber ist es nicht ebenso beklemmend, wenn man dann als Echo hört, das Übel sei eben ein Beweis für die Nicht-Existenz Gottes, dass die Theologen Unrecht haben und die Gläubigen blind seien? Kommt man da voran, wenn man eine rachsüchtige Atheologie gegen eine Schuldgefühle pflegende Theologie ins Treffen führt?

Dennoch lässt Gott das Leiden zu?
Vergely: Gott will das Leiden nicht. Wenn ich leide, so nicht, weil Gott will, dass ich leide, sondern weil ich mit Gott bin, im Leben, unterwegs auf ein Werden hin. (…) Was mich am Christentum fasziniert, ist ein Gott, der die Menschheit vom Leiden und vom Tod befreit – ganz im Gegensatz zu einem Gott, der sich des Leidens bedient. Es ist keineswegs eine Religion des Leidens, sondern des Lebens. Gott ist nicht einer, der zuschaut, wie der Mensch ringt, sondern Er ist mit uns im Leben. Er schenkt dem Menschen das Leben und erklärt ihm nicht das Leiden. Er lädt uns ein, in der neuen Schöpfung zu leben, die durch die Auferstehung mitten in dieser Welt entstand: Sie ist das Geschehen, das alle anderen begründet und uns vom Stachel des Todes befreit.

Der Islam bietet für viele Schwierigkeiten, die den Menschen begegnen, Lösungen an.
Vergely: Der radikale Islam spricht arme Menschen an, die sich an den Reichen und an der Modernität rächen wollen. Was Europa hier anbietet, das sind (…) Werte wie der Körper, der Sex, der Hedonismus. Unlängst habe ich jungen Muslimen zugehört, die auf der Straße in Orléans diskutierten. Sie sagten: „Den Franzosen geht es nicht gut; Gott sei Dank, wir, wir haben das Gebet.“ Ich habe sie mir angeschaut. Sie waren ordentlich gekleidet. Die Mädchen, die dabei waren, trugen den Schleier, wirkten würdig und schamhaft. Das sind zwei Welten, die ein Abgrund trennt: eine Welt, wo 14-jährige Mädchen Jeans tragen, so dass man ihren Stringtanga sieht und die jungen Muslima, die mit ihrem Schleier kultiviert wirkten.

Zwei durch den Glauben getrennte Welten?
Vergely: Das Allerheiligste einer Zivilisation ist ihre Spiritualität. Wir sind äußerst geschwächt, weil wir glaubenslos sind. Wir bieten der Menschheit keine wirkliche Perspektive außer vielleicht jene, den Globus in eine Freihandelszone und einen Supermarkt zu verwandeln, in dem der Konsum nur manchen zugute kommt. Die Kritik des radikalen Islam am Westen macht auf etwas Wichtiges aufmerksam.
Er lehnt unser dekadentes Modell ab. Wir sind in dieser Auseinandersetzung sehr geschwächt, weil wir depressiv und glaubenslos sind. Wir haben im Westen nichts, was verteidigenswert wäre: Wer würde schon für den Lebensstandard oder den Profit sein Leben einsetzen?

Sind Sie Pessimist?
Vergely: Nein: Es sind die Heiligen, die der Welt einen Sinn im Leben vermitteln. Dann versteht der Mensch, was Religion bedeutet. Wenn wir uns heiligen, eröffnet sich die Möglichkeit, dass die Welt aus Hass und Angst herausfindet. Tun wir es nicht, wird uns beides begleiten, bis wir uns heiligen. Andererseits gehe ich eine Wette ein: Ich setze auf einen friedlichen Ausweg aus der Abgestumpftheit und der Verbitterung, in die uns Atheismus und Hedonismus geführt haben. Ich glaube nicht an die allgemeine Katastrophe. Es gibt in unserem Land nachdenkliche Leute, die sich in Frage stellen und auf der Suche nach dem verlorenen Christentum sind. Das alles geschieht im Verborgenen. Der Baum, der zusammenkracht, macht mehr Lärm, als der Wald, der wächst. (…)

Menschlich gesehen, greift Gott nicht viel ein.
Vergely: Ein Gott, der eingreift, ist ein magischer Gott. Gott ist nicht der Held von Minority Report, diesem Film, wo Spielberg Eingreiftruppen auftreten lässt, die die Gedanken der Menschen lesen können, was es der Polizei ermöglicht einzugreifen, bevor ein Verbrechen begangen wird. Gott geht mit im Leben des Menschen, wirkt nicht an dessen Stelle. Wie oft stellen wir nach einer Prüfung fest, dass Gott da war, aber nicht unbedingt an dem Ort, wo wir Ihn erwartet hatten, und nie so, wie wir uns das gewünscht hätten. Eine Mutter trägt ihr Kind auch nicht dauernd auf den Armen. Es kommt der Tag, da sie es allein laufen lässt. „Geh nur, du schaffst das!“ Was wir oft als Schweigen Gottes empfinden, ist Teil dieser Pädagogik: „Ich bin an deiner Seite, geh nur selbst, du vermagst mehr, als du glaubst!“

Auszug aus einem Gespräch, das Luc Adrian mit Bertrand Vergely, einem orthodoxen Christen, Autor auch von La souffrance. Recherche du sens perdu (Gallimard) für Famille Chrétienne v. 18.3.06 geführt hat.

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