VISION 20004/2012
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Eine neue Sehnsucht bricht auf

Artikel drucken Wachsende Sehnsucht nach der Nähe des Herrn über Gegenwart und Zukunft (Von Kardinal Paul Josef Cordes)

Langsam geht sie zu Ende, die Epoche der Entsakralisierung, auch in der Kirche: Feierliche Liturgie, Stille und vor allem Anbetung des Allerheiligsten sprechen insbesondere die jungen Leute mehr und mehr an.

Es war schon vor Jahren in einer Kirche des Sauerlands. Unbeachtet machte ich dort einen Besuch, als ein Priester gerade mit etwa 40 Jugendlichen die Heilige Messe feierte. Der Augenblick des Kommunionempfangs kam. Wie ein Mann stand die ganze Truppe auf und rannte zum Altarraum. Der Zelebrant reagierte heftig. Er schickte alle zurück in die Bänke und hielt eine aufgebrachte, längere Katechese. Der Tenor: „Ihr solltet nicht so gedankenlos den Leib des Herrn empfangen wie Ihr Euch vielleicht an der Kirchentür mit Weihwasser segnet!“ Dann spendete er die Heilige Kommunion. Etwa ein Drittel der jungen Leute blieb auf ihren Plätzen.
Gelegentlich müssen wir innehalten, um die Routine unserer Frömmigkeitsgewohnheiten aufzubrechen; die gängige Praxis wieder mit der Sicht des Glaubens konfrontieren; das theologische Wissen aus unserm Tresor befreien und mit unserer Allgemeinbildung konfrontieren. Dass wir uns plötzlich fragen: Wer tritt beim eucharistischen Geschehen in unsere Mitte, wer bietet sich uns dar?
Es ist der Sohn des allmächtigen Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde. Es ist Gott selbst, der Erfinder unserer menschlichen Natur. Und ich – in meiner Niedrigkeit bin nichts als ein winziges Sandkorn am Gestade der Welt! Wenn wir das zusammen denken, dürften wir uns verwundert die Augen reiben.
Kürzlich erhielt ich schwarz auf weiß die Ergebnisse meiner Blutuntersuchung. Weil der Arzt mir bisher keine Angst gemacht hat, hefte ich den Bericht normalerweise ungesehen ab. Diesmal las ich die Zahlen. Über 40 Angaben: Natrium, Kalium, Eisen, Hämoglobin, Leukozyten etc. Und immer passten die Ergebnisse der Zählung genau zwischen die vorgesehenen Minimum- und Maximum-Werte, die einen gesunden Organismus anzeigen. Es mag kindlich klingen: aber ich war wirklich erstaunt über das Geheimnis unseres Körpers, die Gesetzmäßigkeit und Präzision.
Gleiches widerfährt mir manchmal vor dem Fernsehschirm, wenn man über die Ausmaße des Kosmos spricht, die wir mehr und mehr erahnen. Ich bin gar nicht imstande, Ihnen Einzelheiten zu nennen; über die Dimensionen der Milchstraßen, riesiger als die unsrige mit ihrem kleinen blauen Planeten, bis hin zu den Schwarzen Löchern, von denen man dann und wann spricht.
Eines Tages wollte mir ein italienischer Atom-Physiker die Bedeutung der Neutrinos erklären. Ich habe kaum etwas verstanden, habe mir nur gemerkt, dass sie offenbar schneller sind als das Licht und sich eventuell Einsteins Relativitätstheorie als falsch erweist. Makrokosmos und Mikrokosmos – welche Wunder! Wer sie wahrnimmt, wird gewiss den allmächtigen Schöpfer nicht länger verniedlichen und zu einem „Gott im Taschenformat“ banalisieren. Selbst wenn dieser Gott demütig in der Gestalt des Brotes auf uns zukommt.
Und er will den unscheinbaren auch nicht eintauschen gegen einen fernen oder gefährlichen Gott, wie ihn andere Religionen lehren. Weil etwa im Islam Allah zwar 99 Namen hat, aber niemals „Vater“ genannt wird; mehr noch: Wer es täte, beginge ein schlimmes Sakrileg.
Oder im Hinduismus: In Honkong besuchte ich einen Hindu-Tempel. Auf dem Altar thronte ein Götze mit grausamer Fratze. Eine Frau trat ein. Sie sah sich von dieser tyrannischen und launischen Gottheit abhängig und unter Druck gesetzt. Voller Angst warf sie immer wieder drei geschnitzte Stöcke in die Höhe. Das waren – so sagte mir P. Hubert, mein Begleiter – ihre Lose. Sie hatte den Zauber so oft zu wiederholen, bis diese – zurückgefallen auf die Erde – in ihrer Anordnung ihr eine gute Zukunft zeigten. So janusköpfig ist das Göttliche, wenn der Mensch aus eigener Kraft zu ihm vorstößt.
Unser Mittler zum Vater ist Christus. In Ihm geschieht, was sich weder Sterbensangst noch kühnste Sehnsucht hätten ausdenken können. Gott überbrückt den Abgrund seiner Unterschiedlichkeit zum Menschen, verzichtet auf alle Distanz und Bedrohung. Er sucht meine Nähe. Er kommt, mir Seine Liebe zu bekunden – erniedrigt sich hinein in das materielle Zeichen eines Stückchens Brot. So stößt uns das Altarssakrament auf das Ereignis der Menschwerdung des Gottessohnes. Kenosis nennt die Bibel diese Herablassung Gottes. Sie ist Christi totale Selbstentleerung. Er selbst wählt den beschriebenen Abstieg. Von ihm aus kommt ein unglaublicher Prozess in Gang.
Im Philipperbrief schreibt Paulus: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; Er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (2, 6-8)
Wir kennen den Abschnitt. Er beschreibt Unfassbares. Christus lässt die prägende Daseinsweise von Seiner göttlichen Natur hinter sich. Wohl ist Er Gott, und Seine Natur kann höher und größer nicht gedacht werden. Doch Er hält diese alles überragende Qualität nicht selbstsüchtig fest, um sie für sich auszukosten. Er nimmt ein Sklavendasein auf sich – mit allen Implikationen für den Jesus von Nazareth, die uns geläufig sind, aber darum keineswegs Lappalien für ihn waren: Begrenztheit des Menschenlebens, Bedingt- und Ausgeliefertsein, bis zum grausamen Tod – entstellt, dass man sein Gesicht vor ihm verhüllt; einem Verbrecher gleich. Bis hin zu seiner Hingabe am Kreuz, die auf dem Altar im Zeichen gegenwärtig wird. So ermöglicht er, dass die Alltagspraxis eines Mahles uns die Begegnung mit Ihm schenkt.
Welches Risiko Gottes ging Gott ein, banalisiert zu werden! Doch erst der Abstieg macht Jesu Annäherung an uns in der Eucharistischen Feier möglich. Wir haben uns daran gewöhnt, alles Numinose aus ihr zu verdrängen; Gottes Wirklichkeit zu vergessen angesichts dessen, was vor unsern Augen ist. Unsere Augen sind gleichsam getrübt. Das Große ist alltäglich geworden. Die Römer sagten: „Cotidiana vilescunt – Alltägliches verliert an Glanz.“ Zeichen aber sprechen nicht, wenn nicht unser Sinn immer neu für sie geschärft wird. So ergeht ein Appell an die Glaubenden: Das Alltagsgeschehen des sakramentalen Vollzugs ist auf das geistliche Ereignis hin zu durchdringen. Zu durchschauen, was zu einer alltäglichen Handlung geschrumpft ist. Um es anders zu sagen: Es gilt, sich auf den Völkerapostel einzulassen; wir haben den ganzen Philipper-Hymnus ernst zu nehmen.
Der schreibt nämlich nach den Versen über die Erniedrigung: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ,Jesus Christus ist der Herr‘ – zur Ehre Gottes des Vaters.“
Solcher Lobpreis des Völker­apostels nötigt uns, in den eucharistischen Gestalten nicht mehr nur den erniedrigten Herrn zu sehen. Über alle erhöht, trägt Jesus einen Namen, der größer ist als alle Namen. Er ist zu preisen und zu verehren. Wir haben im Glauben gleichsam seinen Abstieg zu uns rückgängig zu machen und uns vor seinem „Gott-Sein“ zu beugen.
Uns heutigen aber ist es Grund, Christus in der Brotsgestalt neu mit den Augen des Glaubens zu sehen; uns schockieren zu lassen von der Erniedrigung Gottes; uns neu zu wundern, dass Jesus in dieser Weise Seiner liebevollen Nähe zu mir Ausdruck geben wollte; Ihm zu danken, dass Er uns durch Sein Fleisch und Blut schon hier ewiges Leben gibt.
Wir sind in solchem Gedenken nicht allein. Die Sehnsucht nach der Begegnung mit dem eucharistischen Herrn bricht ja in unserer Zeit mancherorts wieder auf. Neben der bewegten und farbenfrohen Liturgie hat in jüngster Zeit die Kontemplation des Altarsakraments neue Freunde zu finden – nicht zuletzt unter jungen Menschen.
In vielen Gemeinden versammelt man sich um das ausgesetzte Sanctissimum. An die bewegende Stunde eucharistischen Gebets etwa während des Internationalen Jugendtages in Köln ist gleichfalls zu erinnern. Oder an die Anbetungsnächte, die in Deutschland unter dem Wort „Nightfever“ jüngstens Fuß gefasst haben. In mehr als 30 deutschen Städten öffnen sich monatlich spät abends die Kirchen. In Österreich, in der Schweiz, in den Niederlanden, in Luxemburg und Belgien zieht man gleichfalls mit solchen Gebetsstunden die Jugendlichen an. Viele von ihnen kommen, das Bußsakrament zu empfangen. Und die Hauptsache ist das stille Gebet vor dem Eucharistischen Herrn. Ihn weiß man in greifbarer, lokaler Nähe, Ihn sucht man mit den Augen im spärlichen Licht der Kerzen, Ihn erkennt man neu als den Herrn über Gegenwart und Zukunft.

Der Autor war bis 2010 Präsident des Päpstl. Rates „Cor Unum“.

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