VISION 20006/2012
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Jede gute Ehe kennt hundertfachen Anfang

Artikel drucken Den Anderen so annehmen, wie er nun einmal ist (Von Ida Friederike Görres)

Die Texte des Buches Von Ehe und Einsamkeit seien Gebrauchsanweisungen für ein erfülltes Le­ben, heißt es im Vorwort. Die fol­genden Gedanken zur Ehe, in Briefform formuliert, setzen sich mit Einwänden gegen die Ehe auseinander. Was Görres 1949 zum Thema zu sagen hat, ist zeitlos gültig, tiefgründig und spannend zu lesen.

Jetzt paß einmal gut auf: Du meinst, die christliche Eheforderung sei eine Theorie, so am grünen Tisch ausgedacht von ein paar Theologen, noch dazu unverheirateten, nicht wahr? Es ist aber gerade umgekehrt. In der Heiligen Schrift steht bekanntlich sehr wenig über die Ehe – viel zu wenig, seufzen manche, die gerne alles ausführlich schwarz auf weiß haben möchten. Aber das Wenige war eben ein Samenkorn, aus dem ein großer Baum gewachsen ist. Das heißt: Christliche Ehe ist aus winzigen Anfängen geworden, weil christliche Menschen wurden. Das neue Leben und der neue Geist der Glaubenden wurden allmählich geschichtliche Tatsache, erfahrene Wirklichkeit und brachten, wie manches andre, auch die christliche Ehe hervor. Neues Verständnis der Menschen von sich selbst schuf neue Gestalt ihrer Grundbeziehungen zueinander.
So ist die christliche Ehe nicht aus Programmen und Manifesten, nicht aus Paragraphen und Rezepten erwachsen, sondern als lebendige Frucht am lebendigen Baum einer innerhalb der Kirche verwandelten Menschheit. Die neue Ordnung wuchs buchstäblich aus dem neuen Glauben hervor, gespeist und getränkt aus den geheimnisvollen Kräften göttlichen Umgangs.
Versteh mich bitte recht: Christus hat die Ehe nicht „erfunden“. Er hat sie vorgefunden, wie Er die sichtbaren Zeichen der andern Sakramente vorfand: Wasser und Bad der Reinigung, Brot und Wein und das Mahl, Öl und Salbung, die Handauflegung als Zeichen der Geistübertragung. Er hat sie alle erhoben zu Seinen wirkkräftigen Gnadenzeichen.
Hier aber nimmt Er das sinnenfällige Zeichen nicht einfach, wie es sich zu Seiner Zeit darstellt – die jüdische Ehe von damals – die lösbare, die unvollkommene Ehe, sondern Er nimmt es in seinem Ur-Sinn, den es nach dem Willen des Schöpfers am Morgen der Schöpfung hatte: Er stellt also seine ursprüngliche Gestalt wieder her, und die christliche Ehe sucht nun diese wieder nachzubilden.
Das Alte, was es schon gab, auf jüdisch und heidnisch – und es war nicht wenig! – lebte noch lange daneben und darunter weiter, und wurde erst sehr allmählich eingeschmolzen oder je nachdem ausgeschieden, und oft unter härtesten Widerständen.
Es ist natürlich auch heute nicht ausgestorben. Standes- und Be­sitz­ehe, die Ehe, die einzig der Fortpflanzung eines Namens oder Stammes oder Erbes gilt, also bei Kinderlosigkeit sinnlos wird, die politische, die geschäftliche, die rein gesellschaftliche und die Versorgungsehe; auch die unechte „Liebesehe“, Verliebtheitsehe, die, was sich sonst außerhalb der Ehe abspielt, in sie zwingen möchte, das heißt, die rein auf sinnliche Anziehung gründende Verbindung, die mit dem Rausch körperlicher Hingerissenheit zerfällt – alles das gibt es natürlich immer weiter.
Darum lebt auch nicht jeder christlich Getraute eine sakramentale Ehe – wie noch lange nicht jeder Getaufte ein wahrer Christ ist. Aber wie jeder Getaufte ein Christ werden sollte und mit der Gnade Gottes könnte, so sollte innerhalb fast jeder naturhaften Eheform die christliche Ehe erblühen und sie allmählich in sich umwandeln können.
Die natürliche Ehe – die es schon gab und immer gibt – empfängt in der christlichen Ehe die Erfüllung der in ihr ursprünglich liegenden Möglichkeiten, die sie weder im Anfang, noch viel weniger im gefallenen Zustand erreichen konnte: genau wie der Mensch überhaupt im christlichen Dasein die Erfüllung seiner ursprünglichen Möglichkeiten erfährt.
Siehst Du, das Christentum hat dem Menschen nicht nur ein neues Gesetz gegeben, sondern es hat die menschliche Seele entwickelt – („die Person“, sagt man, wenn man sich als zeitgemäß gebildet erweisen will) – in einer Weise, die vorher undenkbar war, weil es den einzelnen ein neues, innerliches, persönliches Gottesverhältnis schenkte – und auftrug.
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Erst der christliche Mensch ist fähig christlicher Ehe, das heißt totaler Ehe, die ihn mit Leib und Seele, für Zeit und Ewigkeit in Pflicht nimmt, so ganz, so aus­schließlich, dass es nie mehr eine Scheidung oder ein Zurück gibt, dass sich nie mehr etwas Drittes dazwischendrängen darf.
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Das Entscheidende ist, dass der Andre als der Andre geschaut, gewählt und bejaht wird: nicht als Aufhängestock für unbestimmte „Ideale“, nicht als Spiegelung der eigenen Traumgestalt, sondern eben als der, der er ist. Seltsam, nicht wahr, dass sich genau darin das vollzieht, was unsre blasse „Nächstenliebe“ eigentlich meint: dass ein Mensch geliebt werde, wie Gott ihn liebt, aus dem winzigen Spiegel eines menschlichen Herzens.
Wo das erfasst wird, erübrigt sich wohl die Frage, ob einer den andern zu viel lieben kann. Diese Entscheidung kann in einem Augenblick fallen, verwirklicht wird sie in der Langsamkeit eines ganzen Lebens. Denn auch der andre „ist“ ja noch nicht, was er dennoch „ist“, aber nur wie im Keim. Er muss es werden, und es braucht unser ganzes Leben, bis unser innerster Kern alle oberflächlichen und ungültigen Schichten unsres Ich durchdringt und beherrscht, bis ein Mensch wahrhaft er selbst wird und seine Wahrheit darstellt.
Dass dieses innerste Selbst das Selbst im andern erkennt, sich ihm verbindet und verbündet und beide einander zu ihrer Verwirklichung helfen: auch das bedeutet Ehe. In anderen Worten: Ja, im andern, im Geliebten ist etwas, das „solche“ Liebe verdient. Etwas, das man gar nicht genug, geschweige denn zu viel lieben kann. Wir lieben immer zu wenig. Wir bleiben immer etwas schuldig. Ach, und wie sehr liegt es an unserm Zuwenig, wenn das Bild des andern sich im erfahrbaren Bereich nicht zu der überzeugenden Liebenswürdigkeit entfalten kann! Auch der Mensch bedarf der Wärme und des Lichts, um auszureifen.
Kann man überhaupt einen andern zu sehr lieben? Ich glaube nicht. Man kann höchstens – wenn die Liebe in ihrer Qualität „richtig“ ist – in Bezug auf andre das Maß verfehlen, man kann es auf falsche, auf maß- und hemmungslose, auf unvernünftige Weise zeigen. Nein, nein, unsre Liebe muss wachsen von Tag zu Tag, in die Höhe, in die Tiefe, in die Weite – auch das bedeutet Ehe.
Ob der Mensch so geliebt werden will? Ob er wirklich so lieben will? Ich glaube es doch – wie er sein Heil „will“, seine Seligkeit „will“ – mit allen Fasern seines Seins, mit seiner ganzen Existenz hinstrebend – ach, dennoch auf der Flucht davor – weil es kindisch wäre, an so etwas zu glauben, weil man sich vor sich und den andern doch nicht lächerlich machen kann mit solchem Märchenglauben, als wüsste man nicht, wie das wirkliche Leben ist… Uns aber ist Erfüllung verheißen, und sie ist uns, wenn auch in Stückwerk und Zeichen, schon vielfach gewährt. Auch das bedeutet christliche Ehe: dass einer dem andern zum Heil gegeben ist und dafür lebt.
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Darum verlangt christliche Liebe nicht nur viel, sondern alles. Sie kann überhaupt nur geleistet werden, wenn die Bereitschaft total ist: Wenn man vom andern nicht nur das Heim oder das Kind oder die leibliche Beglückung oder die Versorgung und Lebenshilfe will – und bietet, und im übrigen sein Leben weiter für sich behalten will. Wenn man sich auf eheliche Pflichten und Rechte einigt (die gibt es natürlich auch und sie gehen den Juristen an) und im übrigen seinen privaten Egoismus weiter warmhält.
Ehe ist nicht mein Leben und dein Leben, sondern unser Leben, ein Neues. Jede Ehe ist ihre eigene erste Frucht, noch vor dem Kind, und sie ist nicht unfruchtbar, auch wenn Kinder versagt bleiben, solange sie diese Ernte trägt.
Das heißt nicht Selbstaufgabe und Versuch einer vollkommenen Verschmelzung zu unmöglicher „Einheit“. Zur Liebe ge­hören immer zwei, Liebe gibt es gar nicht ohne einen Gegen-Stand, ein Gegenüber. Nicht einmal die mystische Gottvereinigung bedeutet Auflösung des Selbst in Gott, „wie der Tropfen im Ozean“ – solche Auffassung ist stets von der Kirche verworfen worden. Echte Liebe ist nur möglich von Person zu Person: dazu gehört Abstand im Einklang, Ehrfurcht, dem Anderssein des Andern Raum geben und lassen können. Aber diese beiden müssen ohne Vorbehalt zur ganzen Hingabe aneinander und gemeinsam an Gott bereit sein.
Ich glaube, dass eine Ehe misslingt oder doch sehr gefährdet ist, die ihr Ziel niedriger steckt – ganz wie ein christliches Leben misslingt und nur allzu leicht zur Karikatur wird, das sich mit der Erfüllung von ein paar abgesteckten Geboten und Pflichten begnügen will, statt sich bedingungslos in Gottes Hände zu werfen.
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So heißt es immerfort und unerbittlich an sich arbeiten, dass man liebesfähig bleibe und damit ehefähig. Ist man das „von Natur aus“? Der Anlage nach – gewiss. Aber „von Natur aus“ entwickelt sich diese Anlage nicht, wenn Du darunter „mühelos“ und „von selbst“ verstehst. Von Natur aus ist jeder von uns ein gut entwickelter unersättlicher Egoist – Mann wie Frau. Die Frau ist, was immer sentimentale Verlogenheit behauptet, ebensowenig „von Natur aus mütterlich“ wie der Mann ritterlich. Beide werden es erst, wenn der Egoist erschlagen ist – und wie sehr wehrt er sich! Er hat nicht neun Leben wie die Katze, sondern aberhundert, und Franz von Sales hatte schon recht: „Die Selbstsucht stirbt erst eine halbe Stunde nach unserm Tod.“  Sie ist es, die uns unfähig zur Ehe, weil unfähig zur Liebe macht – und wer dürfte behaupten, dass sie in ihm nicht beständig nachwüchse, wie Nägel und Haar?
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Christliche Liebe steht in großer Nüchternheit zum andern: sie freut sich jubelnd und dankbar an seinem Guten, das keiner sieht wie sie, sie weiß, dass er ein armer Sünder ist, zu allem fähig. Sie kennt den doppelten Bogen menschlicher Möglichkeiten. Der Christ kennt die Gebrechlichkeit des andern, weil er sich selber kennt. Wie sollte er es wagen, dieses Zusammenleben für unerschütterlicher zu halten als das eigene mit Gott? Wir können immer wieder aus der Liebe zueinander fallen, wie wir aus der Liebe zu Gott fallen. Wir können einander verraten, wie wir Gott verraten. Wir können einander die Treue brechen, offen oder geheim, wie wir sie – immer wieder! – Gott brechen.
(…) Es gibt tausend Formen der Untreue. Es braucht nicht immer ein dritter Mensch zu sein, es kann auch die Arbeit sein, der Beruf, die Sorge, sogar die Kinder, sogar Überzeugungen und Ideale. Das Beste und Edelste wie das Niedrige und Läppische kann unsern Sinn, unser Gefühl so abbiegen, dass wir darüber den andern nicht mehr wahrnehmen – oder nur mehr wie durch eine Wand hindurch, wie über einen Abgrund hinweg.
(…) Müssen wir uns dann nicht vor dem Gelöbnis der Treue fürchten? Können wir es überhaupt verantworten? Wir müssen es Gott anheimstellen. Wir geloben es Ihm mehr noch als einander und Er, Er allein bürgt dafür. Die Kirche lehrt mit dem Nachdruck eines Glaubenssatzes, dass Gott dem willigen Menschen die nötige Gnade gibt, um Seine Gebote zu halten. „Scutum bonae voluntatis“, Schild des guten Willens, nennt ein altes Gebet die heilige Kommunion. Gott hält und hütet unsern guten Willen, auch dort, wo wir auslassen würden. Da wir sind, wie wir sind, also der Freiheit und damit des Versagens und der Sünde fähig, geht es nicht ohne Schuldigwerden ab.
Trotzdem wissen wir, dass uns, den Getauften, selbst im Leibe geheimnisvoll und glorreich Anteil an der Auferstehung des Sohnes Gottes gewährt ist. Wir wissen, dass darüber hinaus alles Geschaffene einbezogen ist in das Ostergeheimnis. Auch unser Gefühl, auch unsre schönste glühendste Liebe und Leidenschaft ist sterblich, weil sie ein Teil unsrer todverfallenen Natur ist – wie sollte sie ausgenommen sein? Nicht nur der Leib, auch das unerlöste Gemüt, auch Wille und Geistigkeit nennt die Schrift einfach „Fleisch“, das heißt eben: vergängliche und todgeweihte Natur.
(…) Aber wie das „ewige Leben“ nicht bloß „dereinst“ sein wird, sondern schon heute in uns ist und wirkt, und wie wir deshalb beständig der Wiedergeburt teilhaftig werden, so oft wir auch aus dem Leben in den Tod fallen: so hat auch christliche Ehe, christliche Treue immer wieder an der Auferstehung teil, wie unser ganzes Leben mit Gott: Sie kennt die Reue und Buße. Sie kennt Wiederherstellung und Vergebung. Jede gute Ehe kennt hundertfachen Anfang.


Ehe und Einsamkeit

„Was dieses Buch so anziehend und frisch macht, sind drei Dinge:“ schreibt Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz einleitend, „ der unverblümte Inhalt, die farbige Sprache, die ungewöhnt religiöse Aufhellung von Fragen.“ Die abgedruckten Passagen des neu aufgelegten Buches Von Ehe und Einsamkeit lassen erkennen, wie selbstverständlich Ida Görres (1901-1971) für das Leben entscheidende Fragen aus der Sicht des Glaubens beantwortet, Ihre Gedanken rufen dem Leser Wahrheit in Erinnerung, die er im Alltagstrubel allzu leicht aus den Augen verliert.
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Von Ehe und Einsamkeit. Von Ida Friederike Görres. kairos publications 2012, 137 Seiten,
www.kairos-pr.com,
ISBN-13: 978-3-9503055-3-1

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