Hat es je in der Welt so viele Auseinandersetzungen im Umgang miteinander gegeben wie heute – besonders im familiären Bereich? Gingen je Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern, Paare in oder außerhalb der Ehe, Konkurrenten im Beruf, so lautstark miteinander um?
Diese so rasch aufflammenden Streitigkeiten hat man heute mit dem Ausdruck „Streitkultur“ belegt. Dabei stellt dies eher eine Beschönigung dar; denn Angemessenheit, respektierende Zurückhaltung, ja Disziplin – Eigenschaften, die zur Kultur gehören, sind da immer seltener anzutreffen. Im Gegenteil: In den meisten Fällen ließe sich viel eher von Streit-Unkultur sprechen.
Meistens entsteht ein Schlagabtausch, sehr häufig bereits als unmittelbare Folge von Angriff und Verteidigung. Das „Aug um Auge, Zahn um Zahn“ beherrscht dann unbedacht die Szene. Ein solcher Beginn ist derart regelhaft, dass der Ablauf wie programmiert erscheint. Ohne Rücksicht auf Verluste wird unbedacht – meist verbal – aufeinander losgeschlagen.
Warum dieser viele Streit als ein Merkmal der Moderne? Was hat diese Verhaltensänderung bewirkt? Als Erstes fällt in dieser Hinsicht auf, dass bei vielen Menschen zwar ein größeres Selbstbewusstsein, aber eine geringere Selbstdisziplin in Erscheinung tritt. Aber auch der Respekt, die Achtung vor dem anderen, scheint in der Vorstellung größerer Freiheitsrechte auf der Strecke geblieben zu sein. Rücksicht auf die Würde des anderen, ein Bewusstsein der Gefahr, ihn seelisch – oder bei Eskalationen des Streites sogar physisch – zu verwunden, gehört offenbar bei vielen nicht mehr zum sittlichen Codex. Man agiert allein im eigenen Interesse, fühlt sich im Recht oder meint, stehenden Fußes darum kämpfen zu müssen und rächt sich unnachdenklich in einer geradezu automatisch einsetzenden Gefühlsaufwallung.
In hohen Prozentsätzen führt das dazu, dass die Kontrahenten als Feinde auseinandergehen. Häufig kommt es dann zu Verhärtungen, Steigerung der gegenseitigen Anwürfe, oft auch schriftlich und unter Zuhilfenahme der Jurisprudenz. Wie viele nie endende lebenslängliche Rosenkriege gibt es z. B. allein vor und nach dem Elend von Scheidungen, besonders wenn Kinder vorhanden sind!
Es gibt eine Art von Streit, der sich vermeiden ließe, wenn es nicht Personen gäbe, die immer neu Streit dadurch entfachen, dass sie an ihren Mitmenschen bei jeder Gelegenheit in verletzender Weise Kritik üben und wegen Kleinigkeiten Anstoß nehmen. Manchmal liegt das daran, dass so etwas wie eine Streitsucht vorhanden ist, eine verblüffende Rechthaberei auf dem Boden eines überheblichen Stolzes. Mit Recht spricht man in solchen Fällen vom „Streithammel“.
Bei näherer Kenntnis ergibt sich meistens, dass ein solcher Rechthaber häufig ein Verwundeter ist. Sehr oft liegt die Ursache einer solchen Haltung bereits im Kleinkindalter. Das Kind hat sich in einer unangemessenen Weise zur Wehr setzen müssen, sodass sich das abwehrende Element zu seinem Charakterzug verfestigt hat. Ein solches Erkennen kann den Umgang mit einem Streithahn sehr erleichtern, weil das Durchschauen seiner negativen Vorerfahrungen es dem anderen möglich macht, nicht einfach nur mit ärgerlichem, resigniertem Rückzug oder Gegenangriff zu antworten. Er kann viel mehr auf dem Boden eines bedauernden Mitleids Souveränität entwickeln.
Es hilft aber nicht, darum zu wissen, wenn sich dann in der entsprechenden Situation das wutschnaubende Gefühl, ungerecht angegriffen zu sein, dennoch bahnbricht. Dass Streit zu bereinigen versucht wird, setzt voraus, dass dem Kontrahenten dennoch mit einem Vorschuss an Vertrauen, an Offenheit, an Bereitschaft zu echter Urteilsbildung begegnet wird.
Streit zu schlichten, gehört seit Jahrzehnten zu meinem psychotherapeutischen Alltag. Warum schafft man es nur noch so selten zu einer die Spannung ausräumenden Versöhnung miteinander? Wenn keine Hilfe von außen durch einen unbeteiligten Schlichter in Anspruch genommen wird, liegt der Mangel an gelingender Versöhnung meist daran, dass die Streitenden eine wirksame Chance dazu nicht ins Auge gefasst haben; denn das hat eine Vorbedingung: eine Haltung im Alltag, die auf dem christlichen Menschenbild beruht. Sie ermöglicht, eher zum Wiederfinden des Friedens bzw. zu konstruktiven, heilsamen Ergebnissen von Auseinandersetzungen zu kommen.
Um es direkt auszusprechen: Unser Herr, der große Versöhner, der Friedensstifter durch das Vorbild Seiner Passion und Seiner Aufopferung am Kreuz, Er will herbeigerufen sein – gerade auch in solchen verzweiflungsvollen, Unruhe hervorrufenden Situationen. Der Herr sollte dann in Kopf und Herz vorhanden sein. Die eigene Streitwaffe – welcher Art sie auch sein mag – sollte aus der Hand und Ihm unter das Kreuz gelegt werden, damit Er mit Seiner Kraft einwirken möge, als Frucht der Erkenntnis, dass mit der eigenen Macht die ungute Situation nicht überwunden werden kann.
Ich möchte versuchen, das an einem Beispiel ersichtlich zu machen:
Ein mittelständisches Unternehmen ist aus der Initiative eines sehr aktiven jungen Mannes hervorgegangen. Er ist bei einem ihn prügelnden Stiefvater groß geworden, hat hart gearbeitet mit dem Tag und Nacht angepeilten Ziel, ein wohlhabender Mann zu werden. Aber er hat Schwierigkeiten mit seinen Angestellten, befleißigt sich eines barschen Umgangstones. Anregungen von diesen nimmt er nicht auf. Seine Bürokräfte halten es nicht länger als einige Monate bei ihm aus. Eine erfolgreiche Methode zur Kommunikation mit den Menschen in seiner Umgebung hat er eben noch nicht gelernt. Die lieblose Kindheit hat Schatten auf seine Seele geworfen.
Zunächst scheint sich sein Verhalten als autoritärer Firmenchef zu bewähren: Das Unternehmen blüht auf. Aber seine Abwehr auch im Ablehnen von Innovationen stellt dauerhaften Erfolg dann doch infrage. Seine Starrheit bewirkt, dass er Fehlentscheidungen trifft. Insolvenz droht.
Er hat aber einen tüchtigen Sohn, der als Nachfolger vorgesehen ist. Dieser macht dank seines Volkswirtschafts-Studiums in dieser Situation noch einmal sinnvolle Vorschläge zur Überwindung der Krise. Der Vater aber weist sie ab. Er weiß eben alles besser, obgleich der Misserfolg schon ersichtlich ist. Der Sohn versucht dennoch, ein weiteres Gespräch mit dem Vater herbeizuführen, zu verdeutlichen, dass seine Rechthaberei, sein unangemessener Umgang mit den Angestellten, also seine innere Haltung den Ruin der Firma heraufbeschworen hat. „Man muss ihm doch einmal die Wahrheit sagen“, rät dem Sohn auch dessen junge Ehefrau.
Sohn und Schwiegertochter melden sich bei den Eltern zum Besuch an. Aber das Nein des Vaters beherrscht die Szene. Ja, er wird sogar ausfallend: „Wie willst Du Grünschnabel mir da reinreden?“ Der Sohn kontert: „Du könntest mit den Innovationen, die ich vorschlug, schon längst aus der Krise heraus sein, aber du wirfst uns ja immer nur Knüppel zwischen die Beine.“
Seine Frau pflichtet bei: „Vater, nun rackern wir uns schon bis in die Nächte hinein ab, und ersetzen Dir sogar schon Deine Hilfskräfte im Büro, die Dir wieder einmal davongelaufen sind. Aber recht zu machen ist Dir ja nichts.“
„Was willst Du hier überhaupt mitreden,“ antwortet der Schwiegervater erregt. „Nichts gäbe es, wenn ich allein nicht alles von Grund auf aufgebaut hätte! Wollt Ihr mit mir Streit machen? Das ist Undank pur! Wer hat Euch denn die schöne Wohnung vor die Nase gestellt? Ich bin schon im Rentenalter und habe doch nie aufgehört, mich für die Firma und damit auch für euch abzuschuften.“
„Aber wenn wir nicht so viel Mitleid mit Dir hätten, mit Deinem unmöglichen Benehmen – und trotzdem immer weiter mitmachen würden, wären wir schon früher allesamt auf der Armutsschiene gelandet. Geh doch in Rente, Du schaffst es ohnehin nicht mehr. Deine Einkäufe neulich kamen ja auch viel zu spät. Die Gelegenheit zum Verkauf war verpasst,“ kontert der Sohn in zunehmender Respektlosigkeit. Der Alte steht vor Wut kochend auf und verlässt Türen schlagend den Raum. „Macht, dass Ihr rauskommst!“
Bekümmert tritt das junge Paar den Rückweg an. Was nun, was nun?
„Allein würde ich es jetzt schaffen“, sagt der Sohn zu seiner Frau. Sie pflichtet bei: „Aber er ist wirklich ein Hemmschuh. Starrsinnig war er immer, aber jetzt kommt noch die Altersunbeweglichkeit dazu.“
„Ich muss das bedenken“, sagt der Sohn. „Ich setz mich da auf die Bank. Fahr du schon heim. Ich komme zu Fuß nach.“
Der Sohn, ein praktizierender Christ, geht in der Stille nun mit sich selbst ins Gericht. Bei aller Berechtigung zur Auseinandersetzung um diese entscheidenden Fragen hat er dennoch viel zu grob reagiert, sagt er sich. Kopfschüttelnd über sich selbst, gesteht er sich ein, sich eigentlich nicht weniger starr verhalten zu haben als sein Vater.
„Das war falsch“, sagt er laut zu sich selbst, nachdem er zuvor Christus gebeten hatte, ihn mit Klarheit zu beschenken. „Hier gehört kein grober Klotz auf einen groben Keil. Wenn ich es mit der Firma besser machen will, muss ich es erst im Umgang mit meinem Vater besser machen.“ Er weiß, dass jetzt erst ein Entschuldigungsbrief nötig ist…
„Lieber Vater“, schreibt er. „Wir haben Dich gestern verletzt. Es tut uns leid. Ich habe es an Respekt und auch an Dankbarkeit fehlen lassen. Uns beiden liegt so viel an dem Werk. Ich möchte es so gern weiterführen – zu neuer Blüte.“
14 bedrückende Tage lang keine Antwort. Dann aber: „Ja, Junge, das ist wahr, Dein Auftritt war nicht gut, aber ich bin mit mir ins Gericht gegangen. Im Grunde habt Ihr recht. Ich habe alles wohl nur allein in der Hand behalten wollen. Jetzt weiß ich, ich muss loslassen. Die Firma braucht jetzt Eure Kraft.“
Das Abendgebet des jungen Unternehmers ist voll tiefer Dankbarkeit. „Welch ein Wunder, dass Vater hat nachgeben können, Herr. Das ist Erfüllung meines Bittgebets in all der scheinbaren Ausweglosigkeit. Nach meiner Firmenübernahme muss Vaters erfahrene Stimme aber einen beratenden Platz haben, und ich will versuchen, im Respekt vor seiner Erfahrung und Leistung ihm in angemessener Weise die ihm zustehende Würde zu zuzusprechen. Bitte Herr, sei nun Du der Regent, auch über den neuen Geist, den wir in unserem Unternehmen versuchen wollen.“
Das Beispiel kann lehren, wie leicht unser Bedürfnis nach Selbstverteidigung zu unkontrolliertem Zorn und damit zu Aggressionen verleiten kann. Wir Menschen haben eine Schwäche, die uns leicht in eine Falle von Reaktionen bringen kann, die verletzen und den anderen in seiner Würde kränken.
Vom Sohn dieser Geschichte können wir lernen, dass Revision sogar später noch möglich ist, wenn wir im stillen Kämmerlein den Herrn darum bitten, das Heft in die Hand zu nehmen, um im Versuch zur Versöhnung zum rechten Ton zu finden. Besser noch wäre ein solches Gebet zuvor, mit der Bitte, die Gefühlskontrolle so zu festigen, dass sie schon in der gefährlichen Anfangssituation wirkt.
Im Grunde aber kann jeder Praxisfall zu der Erkenntnis führen, dass noch so tüchtige Hilfe von Menschenhand hier ihre Grenze hat. Christus hat uns deshalb zurecht zugerufen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun!“