Jemandem zu vergeben, das fällt schwer. Instinktiv empfinden wir die Vergebung, die wir jemandem, der uns angegriffen oder beleidigt hat, gewähren als eine Art Selbstaufgabe, ja als Frust, als Demütigung.
Nicht auf seinem Recht beharren; sich nicht rächen, keine Vergeltungsmaßnahmen setzen – wo uns doch eine innere Stimme sagt, sie seien eigentlich wirklich verdient. Und dann auch noch, wie es das Evangelium fordert, Gutes denen tun, die uns Böses angetan haben – ist das nicht Ausdruck von Schwäche? Leistet das nicht der Ungerechtigkeit Vorschub? Verleitet es den Bösen etwa nicht, so weiterzumachen?
Und so kommen wir leicht auf den Gedanken: Vergeben ja, aber nur, wenn der, der uns Unrecht getan hat, dies auch eingesteht und uns um Verzeihung bittet.
Darauf ist klar und eindeutig zu erwidern: Irrtum auf der ganzen Linie. Vergebung ist ein einseitiger Akt. Das lässt sie in den Augen der Welt als Schwäche erscheinen, in den Augen Gottes aber als Stärke. Der heilige Paulus weiß es aus Erfahrung und lehrt es in seinen Briefen: Der Sohn Gottes hat nicht auf unsere Reue und Umkehr gewartet und schon gar nicht auf unsere Heiligkeit, um uns zu vergeben.
Die Gnade ist laut Evangelium genau das Gegenteil dieser falschen Logik. Denn Christus ist für die Gottlosen gestorben zu einem Zeitpunkt, als wir noch ganz schwach waren – wo doch kaum jemand bereit wäre, für einen gerechten Menschen sein Leben zu geben. (…) Jesus ist für uns gestorben, als wir noch Sünder waren. So groß ist die Macht der Liebe: Sie besiegt das Böse durch das Gute. Es ist die Vergebung, die mir zur Umkehr verhilft, die Barmherzigkeit, die mich rettet. Und was für eine Vergebung: eine am Kreuz geschenkte! Die Wunden, die ich Ihm zufüge, sind die Wunden, die mich retten.
Man mag mir entgegen halten: Wenn ich das Sakrament der Buße empfange, muss ich doch auch Reue zum Ausdruck bringen, den festen Vorsatz fassen, nicht mehr zu sündigen. Heißt das nicht: Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ich Vergebung empfange, ist, dass ich meinen Fehler beklage? Stimmt. Es ist die Voraussetzung dafür, dass ich die Vergebung annehmen kann. Denn Gott, bietet mir die Vergebung ja ununterbrochen bedingungslos an.
(…) Hier haben wir es mit einer dieser typischen Halbwahrheiten zu tun, die sich letztlich als totaler Irrtum entpuppen. Eine Sache ist es, dass Vergebung angeboten wird; eine andere, dass sie auch angenommen wird. Stellt ein Beichtvater beispielsweise fest, dass das Beichtkind zwar Sünden bekennt, aber keinerlei Absicht erkennen lässt, etwas daran zu ändern, kann er diesem zwar einen Segen, aber keine Lossprechung geben. Sonst wäre das eine reine, inhaltsleere Formalität. Man darf nie vergessen: Es sind nicht die schwereren Sünden, die Satan und unbußfertige Menschen in die Hölle bringen, sondern deren Reuelosigkeit.
Diese Überlegungen muss man auf konfliktgeladene Beziehungen übertragen: Es ist nicht meine Aufgabe, das Herz meiner Feinde zu verändern. Meine Pflicht ist es, für sie zu beten und sie trotz allem zu lieben – anders ausgedrückt: mein eigenes Herz zu wandeln. Ich warte nicht darauf, dass sie auf den Knien zu mir rutschen, ich versuche auch nicht, sie mit gönnerhafter Güte zu demütigen, ich sehne auch nicht den Tag herbei, an dem sie endlich ihren Fehler eingestehen. Aber ich unterscheide das, was sie getan haben, von dem, was sie sind. Als Kind Gottes und als armer Sünder vergebe ich – zumindest innerlich oder durch ein Wort, ein Zeichen, wenn sich die Möglichkeit ergibt. Vergebung ist wirklich ein Geschenk. Der andere ist frei, damit umzugehen, wie er will: es zu ignorieren, anzunehmen, abzulehen. Ich aber weiß: Auf lange sicht siegt die Barmherzigkeit.
Auszug aus Famille Chrétienne v. 26.9.09.