1994 fand in Ruanda ein Völkermord unvorstellbaren Ausmaßes statt: Rund eine Million Opfer waren zu beklagen. Seit 10 Jahren wird in dem Land um Versöhnung gerungen. P. Ubald hat sich intensiv diesem Dienst verschrieben. Unter anderem berichtete er uns Folgendes:
Gott sei Dank beginnen die Menschen langsam zu begreifen: Vergebung wirkt befreiend für den, der sie gewährt und für den, dem sie zugesprochen wird. Es ist ganz wichtig, dass dies alle wissen: Wer vergibt, erlebt Befreiung. Ich habe das zutiefst selbst erfahren. Als ich nämlich den Mördern meiner Mutter – dem, der den Befehl zum Mord gegeben hatte und dem, der ihn ausgeführt hat – wirklich vergeben hatte (ich zahle für deren Kinder die Studiengebühren), da habe ich ganz tief diese Erfahrung gemacht. Mir wurde klar: Erst wenn man von Herzen vergeben hat, wird das Gebet wirklich aufrichtig. Oft sagen mir die Leute: Zuerst muss sich der, der mich verletzt hat, entschuldigen, dann will ich ihm vergeben. Darauf erwidere ich: „Nein. Du musst zuerst vergeben.“ Das ist jedenfalls meine Erfahrung im Versöhnungsdienst. Der Wille zu vergeben löst die Bitte um Vergebung aus – früher oder später.
Wie wichtig die Vergebung ist, möchte ich auch an folgender geschichte zeigen: Als ich also dem Mörder meiner Mutter vergeben hatte, beschloss ich, seinem Sohn die Ausbildung zu bezahlen. Der Vater war ja im Gefängnis und seine Mutter verstarb. Vor kurzem ist der Bursch nun für die Ferien heimgekommen. Er hatte das Zeugnis, das die Schulen üblicherweise den Kindern geben, damit sie es den Eltern zeigen, nicht mit. Die anderen Kinder, die ich unterstütze, hatten dieses Papier, das als Beleg für die Sinnhaftigkeit der finanziellen Unterstützung dient, jedoch mitgebracht.
So habe ich ihn also gefragt: „Wo ist denn dein Papier? Ich will den Beleg für die Verwendung des Geldes sehen. Ich gebe dir das Geld ja nicht einfach nur so.“ Er gab mir darauf keine Antwort. Ich darauf: „Geh zurück in die Schule und komm mit dem Papier wieder.“ Ich erklärte ihm, dass ich das aus erzieherischen Gründen von ihm verlangen müsse.
Bei dieser Gelegenheit ist mir wieder aufgefallen, wie sehr dieser Bursche noch der inneren Heilung bedurfte. Schon die vielen schulischen Misserfolge hatten mich darauf aufmerksam gemacht. Und so habe ich ihn eingeladen, an einem Heilungsprozess teilzunehmen. In der Charismatischen Erneuerung spricht man von den fünf Schlüsseln. Wer stark verletzt ist, verschließt sich in sich selbst. Dann gilt es, fünf verschlossene Türen zu öffnen.
Welches sind nun die fünf Schlüssel? Der Glaube, die Vergebung, die Befreiung, der Vorsatz und schließlich der Segen. Zu diesem Prozess der Heilung habe ich ihn also eingeladen. Als es um die Vergebung ging, fiel mir auf, dass er in seinem Inneren Probleme mit dem eigenen Vater hatte. Er hatte den Eindruck, dass es ihm jeder am Gesicht ablesen könnte, dass sein Vater ein Mörder war. Da erklärte ich ihm: „Ja, dein Vater hat Menschen umgebracht, aber niemand hat dort, wo du derzeit studierst, eine Ahnung davon. Die Orte sind weit voneinander entfernt.“ Jetzt ging es weiter darum, dass der Bursch seinem Vater verzeiht. Als er sich dazu entschlossen hatte, geschah das bei ihm mit einem großen Schrei der Befreiung: „Ich vergebe meinem Vater!“ Ein Stein ist ihm vom Herzen gefallen. Die Vergebung ist ein machtvolles Geschehen.
Ganz allgemein kann man sagen: Viele Menschen, die leiden, wissen einfach nicht, dass sie im Grunde das Problem haben, etwas nicht vergeben zu können. In diesem Fall hatte dem Burschen konkret niemand etwas angetan. Aber er konnte in seinem Inneren offenbar dem Vater nicht verzeihen, ein Mörder zu sein. Nachdem ich dann über ihn gebetet hatte, ist er zurück in die Schule und die Probleme haben sich gegeben.
Siehe auch Portrait in Vision 2/08