Versöhnung ist schwierig. Sie erfordert die Bereitschaft aller Beteiligten zur Umkehr. Ein leicht dahin gesagtes „Schwamm drüber“, um Harmonie vorzutäuschen, wird dem nicht gerecht. Ein dringender Appell, sich ernsthaft mit der eigenen Schuld auseinanderzusetzen.
Mir sind in den letzten paar Wochen drei Bücher zugestellt worden, die das Thema Verzeihen zum Inhalt haben; weiters Prospekte von Kursangeboten in der psychotherapeutischen und esoterischen Arbeit mit demselben Thema. Mir fällt auf, wie die Tiefendimension, die religiöse und gemeinschaftliche, dabei viel zu kurz kommt, ja oft ganz ausgeklammert wird. „Gesund werden durch Verzeihen“, „Neue Lebensqualität durch Verzeihen“, „Harmonie durch Verzeihen“. Da steht vor allem die möglichst schnelle und schmerzlose Herstellung von Harmonie im Zusammenleben mit anderen im Vordergrund. Doch wirkliches Verzeihen hat immer mit der Wirklichkeit der Schuld zu tun, und darum auch mit Gott. Und hier ist man oft gar nicht bereit, wirklich hinzuschauen, lange genug hinzuschauen und die geforderte innere, bisweilen sehr aufreibende Aufarbeitung zu tun.
Das ist symptomatisch für unsere Zeit. Wir wollen nicht mehr hinschauen, uns nicht mehr mit den unangenehmen Dingen des Lebens auseinandersetzen. Wir sind auch seelisch-geistig fast völlig abgestumpft. Die schändlichsten menschlichen Verbrechen und Perversionen, die schamlosesten Auftritte von Schwulen, der Kindsmissbrauch (Kinderprostitution), der millionenfache Mord an den Ungeborenen lösen bei uns kaum mehr ein Gefühl des Schauders und des Schmerzes aus. Und doch hat das Übermaß all dieser Sünden Jesus Christus Todesangst, Geißelung, Dornenkrönung und Kreuzigung gekostet. Wer denkt noch daran?
Solche geistig-seelische Abgestumpftheit hat etwas Ungeheuerliches an sich, sie lässt uns die Schuld nicht mehr sehen, und wir entgrenzen vollends zum Bösen hin. „Die größte Sünde, den Sinn für die Sünde zu verlieren.“ (Hl. Edith Stein)
Was ist noch ein Ehebruch, eine Abtreibung, was eine Lüge, eine Verleumdung, eine Unwahrheit, eine Hintertreibung, was ein verletzendes Wort? Wir haben nicht einmal mehr Zeit, Gedanken daran zu verlieren. Und doch sind es diese Dinge, die täglich Menschen in tiefste Traurigkeit stürzen, in Wut und Verzweiflung und in den Zusammenbruch ihrer Existenzen.
Ich kenne Menschen, die vor Wut und Raserei über erlittenes Unrecht todkrank und für psychiatrische Behandlung eingewiesen werden mussten. Solches mitzuerleben, ist erschütternd – aber, so frage ich mich, wohnt solcher inneren Empörung gegenüber dem Unrecht nicht oft mehr christliche Gesinnung inne als dem billigen, oft so gottvergessenen Verzeihen, wie es heute von vielen propagiert und praktiziert wird? Es gibt Unrecht, das zum Himmel schreit, und das nicht einfach mit dem berühmten „Schwamm“, mit einem Bibelspruch oder einem „von Ferne sei herzlich entschuldigt“ weggeputzt werden kann.
Es gibt so tiefe und schmerzliche Verletzungen, dass Menschen oft viele Jahre, ja Jahrzehnte brauchen, bis sie nur imstande sind, erste verzeihende Gedanken zuzulassen. Solche Menschen haben ein Recht darauf, ja, es muss ihnen ausdrücklich, auch im Namen der höchsten Wahrheit, der Raum und die Zeit gegeben werden, dass sie in ihrem erlittenen Unrecht und in der Wucht ihres Schmerzes ernst genommen werden. Es gibt kein wirkliches Verzeihen, wenn Schuld nicht in ihrer ganzen Schwere und manchmal auch Ungeheuerlichkeit ernstgenommen und dann in angemessenen Schritten aufgearbeitet wird.
Das sehen wir augenfällig im Zusammenleben der Völker, der Religionen und eben auch der christlichen Konfessionen. Es genügt auch ein Blick auf den Balkan oder in den Nahen Osten. Kaum ein Denker hat über diese Zusammenhänge so gründlich nachgedacht wie der Ethiker und Religionsphilosoph Friedrich Wilhelm Foerster. Er schreibt in dem Buch Christus und das menschliche Leben:
„Man sucht im Privatleben und im Völkerleben Frieden und Versöhnung um jeden Preis. Die möglichst rasche Herstellung oder Wiederherstellung der Gemeinschaft erscheint als christliche Pflicht. Verzeihung und Vergessen wird bewilligt, ohne dass die Schuld gesühnt, das Unrecht widerrufen ist...“ Das gilt auch in der Familie, in der Beziehung von Mann und Frau und insbesondere in der Erziehung der Kinder. Auch hier gibt es viel ungeordnete Liebe, weil Eltern vorübergehende Spannungen nicht aushalten, weil ihnen der Mut fehlt, Dinge anzusprechen und auszusprechen und nach verantwortbaren Schritten zu ringen:
„Die schwache Mutter kann vorübergehende Spannungen in der Beziehung zu ihrem fehlbaren Kinde selbst nicht ertragen. So wird das ungeordnete Verlangen nach ununterbrochener Sympathie ein Hindernis für jede ernsthafte Erziehung. Das Sympathieverlangen wird zur Ursache vollkommener Charakterlosigkeit. Welche Verirrung, das als christliche Liebe zu bezeichnen! In solcher Deutung des Evangeliums fehlt die Gotteswahrheit, d.h. die Verpflichtung, unsere Menschenliebe von Gott her zu ordnen. (…)
Die christliche Liebe allein kann hart sein, im Namen ihres eigenen höchsten Zieles und Gesetzes, im Namen des wahren Heiles, das man dem geliebten Wesen wünscht. (…) Das Leichtnehmen einer Schuld rächt sich immer – an uns und an dem Nächsten, dem wir aus Charakterschwäche eine übereilte Absolution bewilligen. Wer ein fremdes Unrecht zu leicht nimmt um des lieben Friedens und der lieben Liebe willen, der wird es dann erst recht bei sich selber tun. Und nur zu oft ist solche Weichlichkeit gegenüber fremder Verfehlung nur die bewusste oder unbewusste Vorbereitung auf die Preisgabe aller unbestechlichen Forderungen gegenüber dem eigenen ungeordneten Wunschleben...“
Vergebung kann ohnehin nur dann ihren vollen Sinn erreichen und zu wirklicher Versöhnung führen, wenn Einsicht in die Schuld, Reue und die Bitte um Vergebung vorausgehen. Das setzt auch Jesus voraus, wenn er uns auffordert, einander zu vergeben:
„Wenn dein Bruder (deine Schwester) sündigt, weise ihn zurecht; und wenn er sich ändert, vergib ihm. Und wenn er sich siebenmal am Tag gegen dich versündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: Ich will mich ändern!, so sollst du ihm vergeben.“ (Lk 17,3-4)
Wer jemandem vergibt, der sein Unrecht nicht einsieht, bereut und zur Wiedergutmachung bereit ist, bewirkt damit noch keineswegs Versöhnung. Vielmehr muss er damit rechnen, dass sich der andere in seinem unrechten Handeln bestätigt fühlt, was ihn zu neuem Unrecht veranlassen kann.
„Jede Verfehlung gegen die Gerechtigkeit und die Wahrheit bringt die Verpflichtung zur Wiedergutmachung mit sich, selbst dann, wenn ihrem Urheber Vergebung gewährt worden ist ... Die Pflicht zur Wiedergutmachung betrifft auch die Verfehlungen gegen den guten Ruf eines andern ... Sie ist eine Gewissenspflicht.“ (Katechismus 2487) Ganz in diesem Sinne schreibt auch Foerster: „Man kann fremde Schuld nicht schnell genug verzeihen, wenn sie vor Gott bekannt, bereut, gesühnt ist. Wo dies aber nicht geschah, ist das Vergessen ein Vergessen Gottes und die Versöhnung eine Charakterlosigkeit und ein Verrat an der eigenen Wahrheit. Die Treue gegenüber dieser Wahrheit ist wichtiger als die überstürzte Wiederherstellung guter Beziehungen.“
Nun ist daher leider echte Versöhnung in vielen Fällen nicht möglich, weil Menschen zu einer ehrlichen, gewissenhaften Aufarbeitung und Bereinigung oft gar nicht fähig oder willens sind. Oder der eine Teil sieht seine Schuld nicht ein und ist an Versöhnungsschritten gar nicht interessiert. Oder er glaubt, mit einem „saloppen Pardon“ einer schmerzlichen Aufarbeitung aus dem Weg gehen zu können. Da bleibt für den, dem christliche Wahrhaftigkeit und das „Vaterunser“-Gebot und heilige Richtschnur für sein Leben sind, nichts anderes als das „stille Verzeihen“: „Vater, vergib ihnen...“
Christliche Existenz nimmt teil an solcher Tragik des Kreuzes, doch aus ihm fließt uns auch die Kraft zu, Schweres zu ertragen und durchzustehen und es im Gebet in die Hände Gottes zu legen und darin ruhen zu lassen.
Dieser Beitrag will bloß ein Anstoß sein, auf vernachlässigte Aspekte im Versöhnungsprozess hinzuweisen. Betroffene Menschen werden ohnehin Rat bei einem erfahrenen Seelsorger suchen, in schweren Fällen fachkundige Hilfe in Anspruch nehmen. Bei Erbstreitigkeiten, wo oft tief verborgene kindliche Verletzungen in der Familie oder das Zurückfallen in geschwisterliche Rangordnungen zum vornherein jedes vernünftige Gespräch verunmöglichen, empfiehlt es sich, Leute beizuziehen (Mediatoren), die dafür ausgebildet sind und den so häufig vorkommenden entwürdigenden Zerwürfnissen vorbeugen können
Der Autor ist Pfarrer emeritus.