VISION 20002/2013
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Genial, souverän, demütig

Artikel drucken Rückblick auf zahlreiche Begegnungen mit Papst Benedikt: (Von Peter Seewald)

Unsere letzte Begegnung liegt gut zehn Wochen zurück. Benedikt XVI. hatte mich im Apostolischen Palast empfangen, um unsere Gespräche für die Arbeit an seiner Biografie fortzusetzen.

Sein Gehör hatte nachgelassen. Das linke Auge sah nicht mehr. Der Körper war abgemagert, so dass die Schneider Mühe hatten, mit neu angemessenen Gewändern nachzukommen. Er war so weich geworden, noch liebenswürdiger, und noch demütiger, ganz zurückgenommen. Er wirkte nicht krank, aber die Müdigkeit, die die ganze Person erfasst hatte, Körper und Seele, war nicht mehr zu übersehen. (…)
Im August, bei einem eineinhalbstündigen Gespräch in Castel Gandolfo, hatte ich ihn gefragt, wie schwer ihn die Vatileaks-Affaire getroffen habe. Es wäre „nicht so, dass ich irgendwie in eine Art Verzweiflung oder Weltschmerz verfallen würde“, meinte er, „es ist mir einfach unverständlich. Auch wenn ich die Person ansehe, kann ich nicht verstehen, was man sich davon versprechen kann. Ich kann in diese Psychologie nicht eindringen.“
Der Vorfall jedoch habe ihn nicht aus der Bahn geworfen, „denn ich meine, das kann ja immer passieren“. Wichtig sei ihm, dass bei der Aufarbeitung des Falles „im Vatikan die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt wird, dass nicht der Monarch sagt, jetzt nimm ich es aber in die Hand.“
Nie zuvor hatte ich ihn so erschöpft gesehen, so niedergeschlagen. Mit letzter Kraft hatte er den 3. Band seines Jesus-Werkes zu Ende gebracht, „mein letztes Buch“, wie er mit traurigem Blick bei der Begrüßung sagte.
Joseph Ratzinger ist ein Stehauf-Mann. Jemand, der sich ungeheuer schnell regenerieren konnte. Noch zwei Jahre zuvor wirkte er trotz erster Altersbeschwerden fast jugendlich agil. Nun empfand er jede neue Aktenmappe, die aus dem Staatssekretariat auf seinem Schreibtisch landete, wie einen Anschlag.
„Was ist von Ihnen, von Ihrem Pontifikat noch zu erwarten?“, hatte ich gefragt. „Von mir?“, kam die Antwort, „von mir nicht mehr viel. Ich bin doch ein alter Mann und die Kraft, die hört auf. Ich denke, das reicht auch, was ich gemacht habe.“ „Denken Sie an Rücktritt?“ „Das hängt davon ab, wie weit meine physischen Kräfte mich dazu nötigen werden.“ Im gleichen Monat schrieb er einem seiner Doktoranden, dass das kommende Schülertreffen wohl das letzte sein werde.
Es war ein Regentag in Rom, November 1992, als wir uns im Palazzo der Glaubenskongregation erstmals begegneten. Der Händedruck war nicht so, dass man davon gebrochene Finger hatte, die Stimme für einen „Panzerkardinal“ ziemlich untypisch, ausgesprochen weich, zart. Mir gefiel, wie er über kleine, aber vor allem auch die großen Fragen sprach. Wenn er etwa unseren Fortschrittsbegriff in Frage stellte und zur Überlegung gab, ob man denn das Glück der Menschen wirklich am Bruttosozialprodukt messen könne.
Die Jahre hatten ihm zugesetzt. Er wurde als Verfolger dargestellt, und war doch selbst ein Verfolgter, der willkommene Buhmann für alle Unbill, der „Großinquisitor“ schlechthin, eine Bezeichnung, die so zutreffend war, als würde man eine Katze als Grizzlybären verkaufen. Aber niemand hörte ihn jemals klagen. Niemand hörte von ihm je ein schlechtes Wort oder gar eine üble Nachrede über andere Menschen, noch nicht einmal über Hans Küng.
Vier Jahre später saßen wir viele Tage zusammen, um für ein Buchprojekt über den Glauben, die Kirche, den Zölibat und über Einschlafprobleme zu reden. Mein Gesprächspartner schritt nicht im Zimmer umher, wie es Professoren üblicherweise tun. Da war nicht die geringste Spur von Eitelkeit oder gar einer selbstgerechten Hybris. Mir imponierten seine Souveränität, die unzeitgemäßen Gedanken, und ich war einigermaßen überrascht, aus dem großen Schatz der Offenbarung heraus, aus der Inspiration der Kirchenväter und aus der Reflektion jenes Glaubenshüters, der mir gegenüber saß, treffende Antworten zu hören auf Probleme unserer Zeit, die fast unlösbar schienen. Ein radikaler Denker, so war mein Eindruck, und ein radikal Glaubender, der in der Radikalität seines Glaubens aber nicht zum Schwert greift, sondern zu einer weit stärkeren Waffe, der Kraft von Demut, Einfachheit und Liebe.
Joseph Ratzinger ist ein Mann der Paradoxe. Leise Sprache, laute Stimme. Weich und hart. In großen Dimensionen denken, und dennoch das Detail achten. Er verkörpert eine neue Intelligenz im Erkennen und Aussagen der Geheimnisse des Glaubens, ist ein Meister der Theologie – und verteidigt zugleich den Glauben des einfachen Volkes gegen die Religion der Professoren, die so kalt ist wie alte Asche. In der Balance der scheinbaren Gegensätze ist alles austariert, alles mittig. Nicht im Sinne von mittelmäßig, sondern von Gleichmaß, seine Mitte gefunden zu haben – ohne die Leidenschaft zu verlieren für die Entschiedenheit des Fragens und die Suche nach Wahrheit.
(…) Er sei die falsche Wahl gewesen, sagen Kritiker. Die Wahrheit ist, dass es gar keine andere Wahl gab. Ratzinger pflegte nie eine Hausmacht. Dem Intrigenspiel im Vatikan entzog er sich. Er lebte seit jeher in der Bescheidenheit eines Mönches, dem Luxus fremd und ein Ambiente, das über das Nötigste an Komfort hinaus geht, völlig gleichgültig ist. Und kaum je zuvor waren sich die Kardinäle aller Kontinente so einig darüber, in diesem großen Theologen und Denker auch die absolut integre Persönlichkeit gekürt zu haben, die wie niemand sonst aus den beiden Milleniums-Pontifikaten das Fundament für die Zukunft bauen konnte. Alleine es geschafft zu haben, nach einem Mann wie Wojtyla ohne jeden Bruch in ein neues Pontifikat überzuleiten, gilt im weltweiten Bischofskollegium als unüberbietbare Leistung.
(…)Ratzinger ist ein Mann der Tradition, er setzt gerne auf Bewährtes, aber er unterscheidet, ob etwas wirklich auf Ewigkeit Bestand hat oder nur für jene Epoche, aus der es entstanden ist. Wenn es sein muss, holt er, wie im Falle der tridentinischen Messe, old fashion zum Neuen hinzu, weil beides zusammen den liturgischen Raum nicht kleiner macht, sondern ihn erweitert. (…)
Das alles wird man vermissen: Sein schüchternes Lächeln, seine oft ein wenig linkischen Bewegungen, wenn er über ein Podium schritt. Seine klugen Reden, die einem den Verstand kühlen und das Herz wärmen konnten. Vor allem seine Bereitschaft zum Zuhören, bei der ihn niemand übertreffen konnte. Was für ein Bild, als beim Besuch Benedikts in Kuba der ehemalige Jesuitenschüler Fidel Castro sich ein wenig verstohlen an den Pontifex heranwagte, ob er ihm denn nicht einige Bücher schicken könnte, zur geistlichen Erneuerung. Der Capitano der Katholiken hat’s bestimmt getan, Gott zum Gruße, dem alten Revolutionär zum Heil. Der Papst als Problem? Der Papst als Lösung!
(…) In seiner Amtszeit wuchs die katholische Kirche weltweit um 100 Millionen Mitglieder, und zwar überproportional zur allgemeinen Bevölkerungszunahme. In Deutschland wurde sie mit über 25 Millionen Getauften erstmals wieder, vor der evangelischen Kirche, die größte Religionsgemeinschaft. Und wer dumm fragt: Was hat er uns denn eigentlich gebracht, dieser bayerische Papst, so sei zumindest an die Neuevangelisation der Welt erinnert, die Johannes Paul II. ausrief, aber Benedikt erst richtig in Angriff nahm. Das ist nicht unbedingt eine Bagatelle, sondern – nach dem Zusammenbruch der Ideologien und dem Desaster des entfesselten Kapitalismus – mit das größte globale Projekt der Moderne überhaupt.
Er war der Unbequeme, der sich den Schneid nicht abkaufen ließ. Der nicht danach fragte, ob etwas zeitgemäß, sondern ob etwas zukunftsgemäß ist. Ein genialer Geist, der die Demut lehrte – und das nicht nur in Worten. Vielleicht passe es ja auch „zu einem Papst in diesem Augenblick der Geschichte der Kirche“, meinte er einmal, als er aus Zeitgründen ohne Redemanuskript vor sein Publikum treten musste, „in jeder Hinsicht arm zu sein.“
Kaum ein Papst hat sich so zurückgenommen, damit Er hervortreten kann, damit die Gottesfrage wieder ins Zentrum kommt; eines Gottes, der uns anredet, der uns etwas zu sagen hat, der ein Richter, aber vor allem ein Gott der Liebe ist.
Es gibt so viele Probleme, rief er aus, die alle gelöst werden müssten. Und die doch alle nicht gelöst werden können, wenn wir nicht Gott wieder in die Mitte stellen. Wenn Gott wegfällt, erklärte er unermüdlich, wird auch der Mensch seine Würde, seine Menschlichkeit verlieren. Und wenn es dem Glauben schlecht geht, kann es der Gesellschaft nicht gut gehen.(…)
Eine Ära geht zu Ende, vielleicht sogar ein Äon, einer jener Zeitenabschnitte, der im Jahrtausendschritt die großen Wenden in der Geschichte kennzeichnet. Und mit dem Blitz, der am Abend der Demission Benedikts donnernd in die Kuppel der Peterskirche einschlug, setzte die himmlische Regie noch eins drauf: „Ihr habt die Propheten wieder weggeschickt“, schien das Menetekel zu sagen, „aber dieser Mann, den viele nicht hören wollten, kann im Schweigen noch lauter werden!“
„Sind Sie nun das Ende des Alten“, so hatte ich den Papst bei unserer letzten Begegnung gefragt, „oder der Beginn des Neuen“? Die Antwort war: „Beides“.
kath.net v. 20.2.13

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