Die Medien stellen die Kirche gern als krisengeschüttelte, reformbedürftige Einrichtung dar. Die intensive Berichterstattung anlässlich des Konklaves bot Gelegenheit dazu. Aber was soll da erneuert werden? Und wer ist angesprochen? Wir Christen, meint P. Karl – und zwar wir alle.
Anfang Februar 2013 veröffentlichte Der Spiegel eine Recherche, die mich tief erschüttert hat. Dort konnte man lesen, dass es in Deutschland derzeit noch 45.000 Kirchengebäude gibt, dass davon aber in den nächsten Jahren 15.000 Kirchen geschlossen, verkauft oder abgerissen werden müssen. Es liegt für mich kein Trost darin, dass der Großteil dieser nicht mehr finanzierbaren Gebäude der evangelischen Kirche gehört, denn auch katholische Kirchen sind davon betroffen.
Schon 2008, als ich für unsere CD Chant rundum in Europa Werbung machte, wurde ich etwa in Amsterdam einen Tag lang für dutzende Interviews in eine ehemalige katholische Kirche gesetzt, die als Konzertsaal diente. Und in der Diözese Essen im Ruhrgebiet, wo mein Kloster Heiligenkreuz vor 25 Jahren das heute blühende Priorat Bochum-Stiepel gegründet hat, wurden bereits wegen des dramatischen Bevölkerungswandels dutzende Kirchen entsakralisiert. Auf einer Englandreise traf ich mehrfach auf Restaurants, die in ehemaligen Pfarrkirchen untergebracht waren. Es ist ein bedrückendes Gefühl für einen Gläubigen, wenn er zwischen gotischen Säulen und im Farbenspiel bunter Heiligenfenster seinen Toast essen muss…
Das schildere ich deshalb, um uns die dramatische Situation vor Augen zu stellen, in der sich das europäische Christentum gerade befindet. Während in anderen Kontinenten der christliche Glaube boomt, geht es bei uns bergab. Dass uns der Heilige Geist einen Papst aus Südamerika geschenkt hat, war vielleicht Sein göttlicher Versuch, unsere sieche Gläubigkeit zu reanimieren. Aber ich warne davor, sich gleichsam bequem im Stuhl zurückzulehnen und faul darauf zu warten, dass „Papst Franziskus es schon machen wird.“ Und so wichtig es ist, dass es eine skandalfreie Kurie gibt, die evangeliumgemäß dem Petrusamt bei der Leitung der Kirche und der Wahrung der Einheit des Glaubens hilft, so müssen wir doch ganz klar sehen: Das Übel sitzt ja viel tiefer.
Die Krise der Kirche ist nicht primär eine Krise sündhafter Amtsträger und schlecht funktionierender Strukturen. Diese Defizite kann man relativ schnell reparieren, das hat der „Apparat“ Kirche im Laufe von 2.000 Jahren Kirchengeschichte immer wieder geschafft. Um in die Zukunft zu gehen, brauchen wir aber vor allem Menschen, die persönlich im Glauben brennen. Mich erschüttert der Satz aus dem Propheten Jesaja sehr tief, weil er so klar auch die gegenwärtige Situation analysiert. Er lautet: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht!“ (Jes 7,9)
Der beste Papst, die besten Bischöfe, der beste Pfarrer, die bestorganisierte Kurie, die bestgemeinten Pastoral- und Personalpläne ersetzen nicht den persönlichen Glauben des Einzelnen.
Ohne diesen persönlichen Glauben gibt es kein Christentum mehr, sondern nur mehr eine blasse Christentümelei; ohne diesen persönlichen Glauben gibt es kein Gebet mehr als Dialog mit Gott, sondern nur mehr ein neunmalkluges distanziertes Gerede über Religion; ohne diesen persönlichen Glauben gibt es keine Heiligen und Märtyrer mehr, sondern nur mehr Kirchenfunktionäre und Kirchenkarrieristen. Schauen wir einmal in unser eigenes Herz, ob nicht auch dort schon eine Stimmung aufgetreten ist, wo wir mehr über die Kirche reden als dass wir mit Gott reden.
Was ist denn das Wesen des christlichen Glaubens? Mir tut es von Herzen weh, dass die Christen heute so wenig über die Inhalte des Glaubens Bescheid wissen. Dreifaltigkeit, Jesus Christus, Sieben Sakramente, Schöpfung, Erlösung, Vollendung… Die Glaubenswahrheiten sind in den meisten Gehirnen zu einem dünnen Nebel verblaßt. Der Theologenpapst Benedikt XVI. hat sich als Lehrmeister des Glaubens mit aller Vehemenz gegen diese Verdummung des Glaubenswissens gestemmt. Und Papst Franziskus versucht die Neuevangelisierung auf seine Art fortzusetzen und den Glauben in die Herzen der Menschen einzupflanzen.
Damit wir glauben können, brauchen wir wieder eine geistige Auseinandersetzung mit dem Glauben und eine Art katechetisches Grundwissen. Es gibt gute Ansätze wie etwa den Katechismus der Weltkirche und Youcat. Wir brauchen auch Lehrer, die die Glaubensinhalte lebendig und lebensnah, authentisch und doch auch spannend vermitteln können. Wir brauchen also Glaubenswissen, und zwar sehr dringend. Aber das Wesen des christlichen Glaubens ist mehr als „Wissen“ und „Fürwahrhalten“ von bestimmten Inhalten. Das Besondere und Einzigartige unseres Glaubens ist ja, dass Gott Mensch geworden ist. In allen anderen Religionen gibt es eine Kluft zwischen Gott, der Geist ist, und dem Menschen, der Materie ist: Hier Gott, da Mensch! Und dazwischen gibt es die „Lehre“, die Gott einem Weisen, einem Propheten, einem Religionsstifter, einem Erleuchteten offenbart.
Bei uns ist es nicht so. Bei uns tritt Gott selbst auf die Seite des Menschen. Das gibt es in keiner anderen Religion, dass Gott nicht bloß Worte über sich mitteilt, sondern dass das Wort Fleisch geworden ist. Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Der Gottheit nach ist er, wie es das Konzil von Chalcedon 451 ausgedrückt hat, dem ewigen Vater wesensgleich, der Menschheit nach ist er aber uns Menschen wesensgleich.
Von dem 1984 verstorbenen Jesuitentheologen Karl Rahner stammt der tausendfach zitierte Satz: „Der Christ der Zukunft wird Mystiker sein, oder er wird nicht sein.“ Das ist die Verheutigung des Jesajawortes: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht.“ Die „Mystik“ des zukunftsfähigen Christen kann nicht bloß darin bestehen, dass er an die Inhalte des Glaubens glaubt. Das natürlich auch! Aber es muss mehr sein.
Noch einmal: Der christliche Glaube besteht nicht in einer Lehre, die Gott uns aus seiner unergründlichen Ewigkeit herübergereicht hat durch einen Propheten. Nein! Wir Christen müssen nicht einer Lehre oder einem Buch oder einem Dogmensystem glauben, sondern einer Person! Natürlich möchte Jesus, dass wir alles tun, was Er uns in Worten an Geboten und Weisungen gibt. Aber das ist nicht alles. Dem zugrunde liegt die einzigartige Aufforderung an uns, dass wir an Ihn glauben sollen! Jesus sagt nicht nur: „Glaubt meinen Worten“, sondern er sagt auch: „Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ (Joh 14,1) Der Christ muss wissen, dass er nicht zuerst einer Lehre oder einem Dogmensystem glauben zu schenken hat, sondern einer Person: Jesus Christus.
Christlicher Glaube ist zuallererst Freundschaft mit Jesus Christus. Alles, was wir heute zu einem persönlichen und starken Freundschaftsglauben an Jesus brauchen, ist uns in den Evangelien vorgegeben: Die Jünger werden von Jesus persönlich gerufen, sie werden von ihm angeblickt, herausgefordert, sie dürfen Ihn hören, sehen, berühren, an Seiner Seite ruhen. Sie werden von Ihm befragt, korrigiert, ermutigt, getröstet, ermahnt, gestärkt, gesendet… Sie leben in einer Du-Beziehung mit dem Sohn Gottes und teilen ihr Leben mit dem Seinen. Genau solche Menschen brauchen wir auch heute.
Um es klar zu sagen: Ich meine damit nicht, dass wir eine Kirche der „kleinen Herde“ anstreben sollen, im Gegenteil! Jesus wollte nie eine exklusive Elite. Es wird und darf deshalb immer die vielen geben, die „einfach so“ Christen sind, die einfach mitmachen, weil sie „irgendwie“ von Jesus und seiner Botschaft angesprochen sind und sie „okay“ finden. Die Kirche muss eine Volkskirche bleiben!
Aber in die Zukunft kommen wir nur durch Gläubige, die mehr als nur Taufscheinchristen und Christentumsympathisanten sind, durch Menschen, die echte „Jünger“ sind: Gläubige, die aus der Freundschaft mit Jesus leben. Jesus ist es doch gelungen mit nur zwölf mehrheitlich galiläischen Fischern die ganze Welt zu erobern… Eine kleine Flamme genügt um einen Flächenbrand zu entzünden.
Und wie kommen wir zu solchen brennenden Jüngern, die „wie Funken durch ein Stoppelfeld sprühen“ (Weish 3,17)? Wir können sie nicht machen. Glaubensfeuer entsteht nämlich nur dort, wo der Herr selbst begegnet. Am Ostermorgen bestand die „Kirche“ aus einem frustrierten Haufen resignierter und verängstigter Jünger, die Ihn feige verraten und sich verräterisch weggeduckt hatten, als es Jesus an Leib und Leben gegangen war. Und dann kommt Jesus, der Auferstandene: „Shalom aleikem, der Friede sei mit euch!“
Das ist die Initialzündung des Glaubens, den wir heute so dringend brauchen. Nur Jesus kann diesen Glauben auslösen: in unseren Herzen und in den Herzen der vielen, die er noch in Seine Jüngerschaft rufen will, egal in welchem kirchlichen Stand. Bitten wir Jesus um diese Freundschaft. Bitten wir ihn auch voller Vertrauen, seine Macht in den Herzen vieler Menschen zu entfalten.
Der Autor ist Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. in Heiligenkreuz.