Wer sich auf den Weg des lebendigen Glaubens begibt, bleibt derselbe Mensch, in derselben Familie, demselben Beruf – und dennoch geschieht durch Christus eine Umwandlung, die rein weltlich nicht vonstatten gehen kann und die den Menschen über sich hinausführt.
Glauben heißt, so zu Christus stehen, dass Er zur Grundlage des eigenen Daseins, zum Anfang und Ziel der Lebensbewegung, zum Maßstab und zur Kraft wird. Wie weit einer das vollzieht, hängt von seiner Treue und Opferkraft ab; daher tut der Glaubende gut, nicht zu sagen, er sei Christ, sondern er suche einer zu werden.
Im Maße er es aber wird, öffnet sich ihm die Tür des Daseins. Er wird von jenem Überschritt, von jener Hinaufbewegung aufgenommen, die sich beständig in Christus vollzieht. Der Herr hat das Wort gesprochen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ (Joh 14, 6) Die Tiefe des Wortes kann man nicht erschöpfen; aber vielleicht öffnet der Gedanke, der uns beschäftigt, einen guten Zugang: „Der Weg“ ist der Wesensüberschritt, welchen der Gottmensch nicht nur vollzieht, sondern ist, und in den Er den Menschen hineinzieht, der glaubend zu Ihm kommt. In Christus lebend geht der Glaubende den „Weg“; den einzig wesenhaften aus der in sich verfangenen Welt zur Freiheit des Neuwerdens in Gott.
Damit ist nichts Zaubermäßiges gemeint: keine Lockerung der Wirklichkeit, kein Umgehen der Grenzen. Auch keine geheimnisvollen Erlebnisse und außergewöhnlichen Durchbrüche, sondern etwas ganz Wirkliches und Redliches. So redlich, wie die Menschwerdung Gottes selbst; so wirklich, wie diese wirklich ist.
An den Tatsachen, aus denen das Leben besteht, ändert sich dadurch unmittelbar nichts. Die Begabungen bleiben die gleichen; Gesundheit und Krankheit auch. Familie und soziale Stellung, Besitz und Beruf sind, wie sie sind. Der Tag, die Umwelt mit ihren Menschen und ihren Zuständen stellen die nämlichen Aufgaben wie bisher. Alles bleibt in seiner Wirklichkeit – und dennoch öffnet sich die Tür. Der Überschritt, die Hinüberwandlung in Christus wird möglich.
Wie soll man das beschreiben? Wenn jemand mit den Menschen lebt, die ihm zugewiesen sind, zugleich aber an Christus denkt, Ihn zu verstehen sucht, mit Ihm redet – dann wird sein Umgang mit jenen Menschen anders. Nicht, dass er geheimnisvolle Macht über sie bekäme, oder dass sie in seiner Nähe ihre Fehler verlören. Vielleicht geschieht nicht mehr, als dass er allmählich geduldiger, verstehender, gütiger wird; aber auch scharfsichtiger, und nicht so leicht auf die Menschen hereinfällt, vielmehr eine Art Unterscheidung der Geister im Wesentlichen gewinnt, so wenig geschickt er im übrigen auch sein mag.
Das alles sagt aber das Eigentliche noch nicht, denn man kann es nicht sagen. Der Mensch wird eben anders, nach der Richtung hin, wo Christus ist. Der Glaubende bleibt auch in seiner täglichen Arbeit der gleiche Kaufmann oder Postbeamte oder Arzt. Die gleichen Dinge bleiben zu tun. Die Maschine wird in seiner Hand nicht stärker, als in der eines anderen, und der Krankheitsfall nicht einfacher, als er sonst wäre.
Wenn er aber seine Arbeit tut und zugleich mit Christus lebt, das Eine und das Andere, vielleicht ohne irgendwelche Übergänge vom Einen zum Andern zu sehen, dann geht darin etwas vor sich. Etwa wird er ernster und gewissenhafter, verliert aber gleichzeitig die falsche Einschätzung der Arbeit und sieht sie als das, was sie wirklich ist. Das Gleiche gilt für Sorgen und Schmerzen und alle Not des Daseins. Der Stoff des Lebens bleibt der gleiche, und dennoch wird etwas anders, nur entschlüpft das dem Wort.
Man kann es selbst nie sagen; sagen kann man nur die Dinge des Daseins: dass hier eine Krankheit ertragen wird, dort ein Verlust überwunden, dann wieder eine Feindschaft gelöst und dass in alledem die Dinge in Christus hinein anders werden.
Dieses Anderswerden sehen wir klarer, wenn wir jene betrachten, die es in heroischer Weise vollzogen haben, die Heiligen. Freilich wohl erst, wenn wir im Rückblick auf sie schauen, denn die im Leben neben ihnen arbeiteten und kämpfen, haben meist nicht viel bemerkt, ja sich oft genug an ihnen gestoßen.
Blicken wir aber nun zurück, so können wir oft mit Händen greifen, was da vor sich ging: wie dieser Mensch langsam aus dem ersten, eigenen Ansatz heraussteigt. Nicht indem er neue Verhältnisse um sich schuf, oder sich in ein anderes Wesen verwandelte. Die Redlichkeit und Wirklichkeit des Daseins blieb, ja hier gerade und ganz. Niemand nimmt die Wirklichkeit so ernst wie der Heilige, würde doch auf seinem gefährlichen Wege jede Phantastik sich unerbittlich rächen.
Heiligwerden bedeutet, dass der wirkliche Mensch von sich loskommt, in den wirklichen Gott hinein. Aber dass er auch wirklich loskommt, und nicht das, was er am Ausgang verlässt, verhüllt im Ziel wiederholt. Und loskommt im Glauben. Nicht mit „Entzückungen“ und „Durchbrüchen“, sondern in Christus.
Die Heiligen sind jene, die in das Dasein Christi eingehen, Sein Leben mitvollziehen, und aus Seiner Menschheit in Seine Gottheit aufsteigen. An diesen offenbarenden Gestalten sehen wir deutlicher, was auch in uns vorgeht. Verdeckt, verworren, immer wieder zurückgeworfen und zerbrochen, und dennoch wirklich. Durch Christus wird der Christ möglich. Durch Ihn, den personhaft in Gott hinein geeinten Menschen, den wesentlichen Überschritt aus der Welt in Gott, wird das Kind Gottes aus Gnade, der Überschritt der Erlösung möglich.
Freilich muss das geglaubt werden: gegen die beständigen Einwände der eigenen Unzulänglichkeit; gegen die Einwände der Welt, die sich auch hier in sich selbst einschließt und den Glauben bestreitet. Denn wenn es den Christen gibt, hat sie Unrecht. Die sich in sich selbst behauptende Welt kann nicht dulden, dass es den Christen gebe, weil sie nicht dulden kann, dass es Christus gibt. Die Möglichkeit des Christseins muss geglaubt werden wider die Welt, und darin, dass dieser Glaube wirklich vollzogen und aufrecht erhalten wird, ist die Welt schon „überwunden“.
Romano Guardini
Aus: Der Herr. Von Romano Guardini S. 534ff, Herderbücherei Band 813 (1980)