VISION 20003/2013
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Damit Jesu Geist uns ganz erfüllt

Artikel drucken Die Aktualität des Rufes „Maranatha“

Religiöses Engagement ist gut, karitatives und missionarisches Wirken ist gut, Spenden ist gut – und dennoch: Wirklich entscheidend ist, dass der Christ Jesus in seinen Alltag einbezieht und Ihm das Steuer überlässt.  


In der Osterzeit kam nach dem Gottesdienst eine jüngere Frau auf mich zu und sagte zu mir: „Herr Pfarrer, heute habe ich zum ersten Mal etwas begriffen. Sehen Sie, im Evangelium, das wir heute gehört haben, da haben die Leute den Herrn gefragt:
‚Was müssen wir tun, um die Werke Gottes zu vollbringen?‘ Und Jesus gibt ihnen zur Antwort: ‚Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat.‘ (Joh 6,29) Ich habe dieses Wort schon oft gehört und gelesen, heute aber ist es mir aufgegangen, heute habe ich zum ersten Mal begriffen: Gott braucht nicht in erster Linie unsere menschlichen Werke, Leistungen, ja nicht einmal unsere Tugenden.
Nein, die entscheidende Tat, die Er von uns Menschen verlangt, ist der lebendige Glaube an Seinen Sohn Jesus Christus. Das ist mir heute zum ersten Mal so richtig klar geworden. Daraus ergibt sich dann alles andere von selbst. Wissen Sie, seit Jahren quäle ich mich mit Gedanken herum wie: Was müsste man tun, dass die Menschen wieder an Gott glauben? Müsste man nicht viel mehr beten? Müsste man nicht viel mehr fasten, viel mehr Buße tun? Müsste man nicht auf die Straßen gehen, predigen, Traktate verteilen wie die Evangelischen? Müsste man nicht Gott bitten, dass Er endlich eingreift, die Menschheit zur Vernunft bringt? Müsste man, müsste man... Es ist zum Verzweifeln.“
Im Gespräch mit dieser Frau durfte ich spüren, dass ein Strahl des österlichen Lichts in ihr Inneres gefallen war, ein Licht, das diese Frau immer mehr ins Weite der göttlichen Freiheit führen wird, wenn sie dieses Licht nicht ausgehen lässt, sondern ihm folgt, wohin es sie führen will. Es gibt in der Tat nichts Entzückenderes in den Augen Gottes, nichts stellt den Menschen so ins leuchtende Zentrum seiner göttlichen Bestimmung wie dieses „ganz mit Jesus Sein“. Wie innig drückt das doch ein mittelalterlicher Christushymnus aus (Iesus, dulcis memoria, 2. Strophe):
Nichts Lieblicheres kann man singen,
nichts Angenehmeres hören,
nichts Süßeres denken,
als Jesus, Gottes Sohn.
Wer in solcher Weise an Jesus, den Sohn Gottes, glaubt, wer liebevoll an Ihn denkt, Ihn fühlt, Ihm singt, Ihn liebt, Sein Wort in sich aufnimmt jeden Tag, der wird das Wunder erleben, dass Sein Geist ihn erfüllen wird mit der ganzen Milde Seiner Liebe und Seiner Barmherzigkeit. Und genau das ist das Geheimnis der Fruchtbarkeit der Christen, ihrer Lebendigkeit, aber auch ihrer Un­überwindbarkeit: dass der Heilige Geist in ihnen ist, der Geist des auferstandenen Herrn. „Erlange den Geist des Friedens, und Tausende um dich herum werden gerettet werden“, sagt der russische Heilige Seraphim von Sarow. Eine beglückendere Verheißung kann es für einen Christen gar nicht geben!
Doch wo dieser lebendige Geist des Herrn nicht in einem Menschen ist, wo in einem Christen das Feuer ausgegangen ist – in einem solchen Haus ist es ungemütlich, da will niemand wohnen, da findet kaum mehr ein Gebet den Weg zum Himmel. Dunkle Gefühle bedrücken das Gemüt solcher Menschen. Sie verlieren die Freude am Leben, sehen in der Zukunft nur noch dunkle Wolken und halten Ausschau nach Gericht und Katastrophen. Im apokryphen Thomas-Evangelium ist der Satz zu finden: „Jesus sprach: Wer mir nahe ist, ist dem Feuer nahe.“ Und tatsächlich: Ein Mensch, der Jesus nahe ist, friert nicht mehr, er hat es mitten im Winter warm, seine Augen sind erleuchtet und er selber strahlt diese Wärme, dieses Licht an die Menschen aus, die mit ihm sind.
Dieses Feuer wird ihn auch zur rechten Zeit hinaus treiben (siehe Zeugnis S. 8-9), hinaus zu einem Kranken, zum Vater im Altersheim, zur geschiedenen Tochter, zur Frau im untern Stock, auf eine Missionsstation in Afrika, genau an den Ort, wo der Geist ihn haben will, nicht in die Zerstreuung, nicht ins Uferlose, nicht ins ruhelos Maßlose.
So ein Mensch ist frei von den quälenden Gefühlen, er müsste die ganze Welt bekehren, Dinge tun, zu denen er nicht berufen ist, müsste Bücher schreiben, eine Hompage eröffnen, Radio- und TV- Sender ins Leben rufen im Glauben, man könnte mit einer Sturzflut christlicher Botschaften die arme Menschheit ins Himmelreich schwemmen.
Nun werden Sie mir vielleicht entgegen halten: Aber ich glaube doch von Kind auf an Jesus Christus, aber bei mir tut sich nichts dergleichen, nichts Geistiges.
Passen Sie auf! Viele Christen glauben, dass sie glauben. Sie glauben an Jesus wie sie an Wilhelm Tell glauben oder an einen Kräutertee. Kein Mensch, kein Christ, ja, nicht einmal ein Heiliger darf von sich sagen, er kenne Jesus Christus ganz, vollkommen. Nein, niemals. Immer steht er mit seiner Erkenntnis und Liebe am Anfang, denn Jesus ist Gott.
Täglich ruft ihm Christus zu: „Komm, nimm das heilige Evangelium, such mich, frag mich, klopfe an, grab tiefer, halt Mahl mit mir.“ Alles Erkennen bleibt jedoch Stückwerk. Selbst ein langes Leben reicht nicht aus, um Jesus Christus wirklich kennen zu lernen. Er ist ein weites, endloses Meer, und je mehr wir mit unserem Schifflein hinaus fahren, umso weiter rückt der Horizont in die Ferne. Und immer umweht uns ein kühles Lüftchen, ein Flüstern spricht zu uns: „Ich werfe dir vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast.“ (Off 2,4)
Die Zunge vermag es nicht zu sagen,
noch können Buchstaben es ausdrücken,
nur wer es erfahren hat, kann glauben
was es heißt, Jesus zu lieben. (Iesus, dulcis memoria, 4. Strophe)
 Ich bin mir ganz sicher, dass auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. von dieser liebenden Sehnsucht, Jesus immer besser und tiefer kennen zu lernen, ein Leben lang bewegt war. Darum hat er sein dreibändiges Jesusbuch geschrieben, als Papst und in einem Alter, wo wir längst unseren Ruhestand genießen, wo ihm kaum mehr Zeit dazu blieb, kaum mehr Kraft. Ja, mit letzter Anstrengung hat er’s geschrieben, weil es seine wichtigste Botschaft an eine verlorene Welt war. Weil er wusste, der alternde christliche Weltteil, ja, die Großzahl der Christen ist in Gefahr,  der Macht des Antichristen zu verfallen, wenn sie nicht in letzter Stunde zum lebendigen Jesus Christus zurückfinden.
Er hat geahnt, dass die Menschheit dabei ist, in einer verzweifelten Raserei unterzugehen, in einer ungeheuerlichen Selbstzerstörung zu enden, wenn nicht viele wieder zu Jesus Christus zurückfinden, zum Grund der Schöpfung, zum Grund dieser Welt, zum Erlöser dieser Welt, „zur wahren Herzensfreude“, zum letzten Rettungsanker dieser Welt.
Das hat nichts mit apokalyptischer Angst und Drohung zu tun. Das hat mit Liebe zu tun, mit Erbarmen. Es ist der Geist Jesu selbst, der solche Menschen zum Handeln treibt. Der Geist Jesu tritt für die Welt ein, Er will nicht, dass die Menschheit in einem selbstinszenierten „Strafgericht“ untergeht, weil heute Schrecklicheres für die Welt, für die Kinder, die alten und kranken Menschen, ja für die ganze Menschheit gar nicht gedacht werden kann. Der Geist Christi will nicht, dass der Antichrist alle Kinder Gottes zermalme und sie unter Drangsalen ihren Glauben verlieren. Der Geist Christi will nicht, dass die Kirche, vielleicht schon bald, aus allen ihren gequälten Gliedern blute und verblute. Nein, der Geist betet Tag und Nacht in Seinen Heiligen:
„Komm, Herr Jesus!
Rette deine Kinder,
rette deine Kirche,
rette deine Welt!“
 Lassen Sie mich mit einem Wort aus dem II. Band von Benedikt XVI. abschließen:
„Können wir um das Kommen Jesu beten? Können wir aufrichtig sagen: Marana tha! Komm, Herr Jesus? Ja, wir können es. Nicht nur das: Wir müssen es! Wir bitten um Antizipationen (Erfahrungen der Vorwegnahme) seiner welt-erneuernden Gegenwart. Wir bitten ihn in Augenblicken persönlicher Bedrängnis: Komm, Herr Jesus, und nimm mein Leben hinein in deine Gegenwart deiner gütigen Macht. Wir bitten ihn, dass er Menschen, die wir lieben oder um die wir Sorge tragen, nahe werde. Wir bitten ihn, dass er in seiner Kirche wirksam gegenwärtig werde.
Warum sollten wir ihn nicht bitten, dass er uns auch heute wieder neue Zeugen seiner Gegenwart schenke, in denen er selber kommt? Und diese Bitte, die nicht unmittelbar auf das Welt­ende zielt, aber doch wahre Bitte um sein Kommen ist, trägt in sich die ganze Weite der Bitte, die er selbst uns gelehrt hat:
‚Dein Reich komme!‘
Komm, Herr Jesus!“ Amen


 Urs Keusch
Der Autor ist Pfarrer emeritus.

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