Die frühe Gemeinde hat an eine baldige Wiederkunft des Herrn geglaubt, und vieles in ihrem Leben und ihrer Haltung kann nur von hierher verstanden werden. Dann verliert sich dieses Bewusstsein. Der Druck, der auf dem christlichen Dasein liegt und die Bedrängten treibt, sich leidenschaftlich an ein bald erhofftes Ganz-Anderes hinzugeben, lässt nach. Missachtung und Verfolgung hören auf. Christ zu sein, wird zu etwas Normalem, ja schließlich zu einer selbstverständlichen Voraussetzung des allgemeinen Lebens. Eine christliche Gesellschaft und Kultur entsteht, die naturgemäß nicht Abbruch, sondern Dauer und Erfüllung wünschen muss.
Mit der Neuzeit wandelt sich dann das ganze Weltbild. Unter dem Einfluss der Wissenschaft werden das kosmische sowohl wie das geschichtliche Dasein als etwas Eigenständiges aufgefasst, das sich nach inneren Gesetzen vollzieht. So muss der Glaube, Christus werde wiederkommen und diesem Dasein ein Ende setzen, sinnlos erscheinen.
Wir sagen wohl nicht zuviel, wenn wir meinen, das Bewusstsein von der Wiederkunft des Herrn habe auch im christlichen Leben keine ernsthafte Bedeutung mehr. Sie wird als fernes Ereignis angenommen – so fern, dass man sie auf sich beruhen lässt. Zwischen ihm und dem eigenen Dasein steht wie ein Wall die wissenschaftliche Weltansicht. Verliert aber das christliche Dasein dadurch nicht etwas Wesentliches? Es hat sich in der Welt eingerichtet. Es ist, als „christliche Kultur“, zu einem Bestandteil der Gesamtwelt geworden, und die Wiederkunft des Herrn wird leicht mit jenem Ende der Geschichte zusammengenommen, das sich natürlicherweise aus ihr selbst ergibt.
So fehlt dem heutigen christlichen Dasein die Spannung, welche die ersten Jahrhunderte erfüllte: die Strenge der Unterscheidung, die Leidenschaft des Einsatzes, das Drängende in der Luft und im Gefühl – ebenso wie jene Helligkeit des Bewusstseins und jener Ernst, die aus der Tatsache kamen, dass die meisten Christen sich in schon reifem Alter dem Glauben zugewendet hatten. Dennoch ist der Glaube an die Wiederkunft des Herrn da, und jeder Glaube hat den Charakter des Keimes. Er kann schlummern und wieder aufleben.
Vielleicht muss dazu das christliche Dasein an Selbstverständlichkeit verlieren. Das Fragwürdige am Begriff der „christlichen Kultur“ muss wieder klar werden. Der Riss zwischen Offenbarung und Welt muss wieder aufbrechen. Vielleicht sind wieder Zeiten der Verfemung und Verfolgung des Christlichen nötig, damit das Bewusstsein von dem besonderen Charakter seiner Existenz erwache.
Dann wird sich auch wieder das Wissen um den kommenden Herrn rühren. Doch kann man darüber wohl nicht viel sagen. Auch die einzelnen Elemente der christlichen Wahrheit haben ihre Zeiten. Zeiten, in denen sie hell und mächtig sind, und solche, in denen sie an bewusster Bedeutung verlieren und versinken – um sich dann als Antwort auf neuerlebte Fragen wieder zu erheben.
Romano Guardini
Aus: Der Herr Von Romano Guardini. Herderbücherei Band 813 (1980), S. 570f.