Eine 8 Meter hohe Trennmauer zwischen der Westbank und Israel zieht sich wie eine Narbe durch das Heilige Land. Sie trennt Familien, lässt Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren, reduziert den Handel und isoliert Dörfer und Nachbarn. Wer von Jerusalem nach Bethlehem will oder umgekehrt, der muss durch Checkpoints der israelischen Armee. Es scheint, als ob der Friede, den die Engel den Hirten auf den Feldern Bethlehems verheißen hatten, heute unerreichbar ist. Die Menschen im Westjordanland fühlen sich wie Gefangene im eigenen Land.
Manche Künstler haben an der Mauer zwischen Betlehem und Jerusalem Namen, Zeichnungen, Graffiti, politische Sprüche und Karikaturen angebracht. Daneben schuf der englische Ikonenmaler Ian Knowles ein herrliches Marienbild mit dem Titel: „Maria, die die Mauern niederriss.“ Der Künstler verwendete dabei Techniken, die auf das 6. Jahrhundert zurückgehen. Für ihn ist die Schöpfung einer Ikone ein geistliches Tun: „Ich versuche, mich dabei in die Gegenwart Christi und die Gemeinschaft der Heiligen zu versetzen. Ikonen kann man nur mit dem Herzen malen.“
Die Gottesmutter thront über einer Mauer, die schon Sprünge aufweist. Der Mond zu ihren Füßen ist ein weiteres Zeichen der Vergänglichkeit und Garant dafür, dass auch diese Mauer eines Tages fallen wird. Drei alte Olivenbäume sprechen symbolisch für die Kraft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Unter dem Bild ist ein Tor gemalt mit dem Blick auf das „himmlische Jerusalem“, wo alle Tränen der Trauer abgewischt werden.
Daneben hängt ein Schlüssel, Symbol für Maria als der Schlüssel zu Jesus: „Tut, was Er euch sagt!“ (Joh 2,5). Die Gottesmutter ist schwanger. Ihr Gesicht ist von Schmerz geprägt über das Leid ihrer Kinder. Sie möchte den Menschen nahe sein, die ihre Arbeitsstelle durch die Mauer verloren haben, die nicht wissen, wie die unsichere Zukunft weiter geht, die voller Ängste und Nöte sind, deren Probleme sich wie diese unüberwindliche Mauer auftürmen.
Während Stacheldraht und Beton die Menschen voneinander trennen, verheißt diese Ikone Hoffnung für die Eingemauerten. Hoffnung auf Frieden bei den Menschen (Lukas 2,14). Denn wo Menschen Mauern errichten, hat Gott längst begonnen, diese zu überwinden.
Das ist die Botschaft der „Gottesmutter an der Mauer“: Ich bin immer euch nahe, besonders denen, die schutzlos sind. Deshalb ist „Maria an der Mauer“ ein großes Zeichen der Hoffnung. Dort in Betlehem, wo Jesus in ärmsten Verhältnissen geboren wurde, ruft Maria die Menschen auf, mit Blick auf ihre Ikone trotz scheinbar unüberwindbarer Hindernisse in Liebe und Solidarität einander zu dienen und zu helfen. Maria hat ihr Ja gesagt bei der Menschwerdung des Gottessohnes. Sie ist ihrem Sohn auch in der schmerzlichen Stunde seines Lebens bis unter dem Kreuz treu geblieben. Sie ist auch heute die helfende Brücke zu den leidenden Menschen und die Mutter aller Völker.
Karl-Heinz Fleckenstein