"Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen. Der Name des Herrn sei gelobt." (Ij 1,21) Dieses Wort aus dem alttestamrntlichen Buch Hiob begleitet mich schon seit der Totgeburt unserer Tochter Sara im März 2007. Es erinnert mich auch immer an folgende jüdische Legende: Der Rabbi kam aus dem Bethaus. Er vermißte seine beiden Söhne. Mehrmals fragte er seine Frau, wo die Knaben seien. Sie gab ausweichende Antworten.
Später sprach sie: "Vor etlicher Zeit kam ein Fremder zu mir und gab mir ein Pfand, damit ich es aufbewahre.Es waren zwei kostbare Perlen von großer Schönheit. Ich hatte meine Freude an ihnen, als wären sie mein. Heute, als du im Bethaus warst, ist der Fremde gekommen und hat sein Pfand zurückverlangt. Sollte ich es ihm wiedergeben?"
Streng rügte der Rabbi: "Welch eine Frage! Wie kannst du zögern, anvertrautes Gut zurückzugeben?" Da nahm die Frau ihn an der Hand und führte ihn in die Schlafkammer. Sie hob die Decke vom Bett. da lagen die Knaben. Still und schön.
Beide waren tot. Der Rabbi schrie laut auf und warf sich über seine Söhne. Sie aber sprach: "Hast du nicht gesagt, das Pfand müsse zurückgegeben werden? Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!"
Der Mensch ist nicht Herr über Leben und Tod. Alles Gute in seinem Leben, auch die ihm anvertrauten Menschen, sind ihm nur geliehen. Wenn wir auch noch so lieben, der Geliebte gehört uns nicht, wir haben kein Recht auf ihn. Das Verstehen dieser Tatsache, das Glauben, daß Gottes Wege trotz allem Unverständnis in der Situation des Verlusts die richtigen sind, lindert jedoch nicht die Trauer.
Nach der Geburt unserer Tochter glaubte ich, niemand könne wirklich verstehen, wie traurig ich war und was ich verloren hatte. Niemand außer uns hatte unsere Sara gehalten, niemand gesehen, wie wunderschön sie war. Noch heute bin ich aber zutiefst gerührt, wenn ich daran denke, wie liebevoll und zärtlich die Hebamme unsere Sara behandelte, obwohl sie schon gestorben war. Wie unendlich dankbar war ich für diese Zeichen der Wertschätzung unserem Kind gegenüber! Oft erinnere ich mich noch an die Worte des Krankenhausseelsorgers Pater Oliver: Die letzten neun Monate waren trotzdem nicht umsonst. Es war doch eine Zeit der Liebe!
Ich erfuhr in der ersten Zeit nach dem Tod des Kindes von vielen Frauen und Familien, daß sie unser Schicksal teilten. Bei den meisten war es schon Jahre her, daß sie ein Kind verloren hatten. Ich war dankbar dafür zu sehen, daß es auch ein Leben nach der Trauer gibt, wenn es auch in diesem Moment noch in weiter Ferne schien.
Bis heute höre ich oft von Frauen, die Fehlgeburten oder Totgeburten erlitten haben und erleiden. Ich weiß nicht genau, ob ich einfach hellhöriger für diese Schicksalsschläge geworden bin oder ob sich Frauen, die ähnliches erlebt haben, einfach einander diese Dinge zutragen, auch um sie ins Gebet mit einzuschließen. Bis heute schwingt natürlich im Mitgefühl für diese Familien immer auch leise die eigene Trauer noch mit.
Bei der Begräbnisfeier heißt es: ihr oder sein Tod erfüllt die Angehörigen und viele von uns mit Schmerz. Tatsache ist: je früher Gott ein Kind zu sich holt, vor allem wenn es noch im Mutterleib geschieht, umso kleiner ist der Kreis derer, die trauern und sich erinnern. Wenn ein Kind bei der Geburt stirbt, kommt man aus dem Krankenhaus, und der Alltag hat sich überhaupt nicht verändert: die Anzahl der Familienmitglieder ist gleich, die Arbeit ist die gleiche und doch ist alles ganz anders. Die Zukunft ist anders, anders als geplant, anders als erhofft. Und das ist vielleicht der zweite große Verlust, wenn ein Kind stirbt.
Es berührt mich auch sehr, wenn Paare ein Kind am Beginn der Schwangerschaft verlieren. Wenn es noch niemand sieht, noch niemand weiß, höchstens die engsten Verwandten und vielleicht der Chef. Wer trauert mit ihnen? Wer betet für sie oder mit ihnen? Oft sind sie allein mit ihrer Trauer. Sie haben kein Grab und keine Erinnerungsstücke an ihr Kind. Sie sind im Bewußtsein anderer Menschen noch keine Eltern.
Manche Eltern, die Kinder im Frühstadium der Schwangerschaft verloren haben, geben ihnen Namen. So haben sie auch in der Erinnerung der Familien einen Platz und werden ihren Geschwistern (wenn sie alt genug sind, davon zu erfahren) als Schwesterchen oder Brüderchen im Gedächtnis bleiben. Bei Totgeburten kann man heute auch eine Beurkundung mit Namen beantragen und sie beerdigen lassen. (Auch bei frühgeborenen Kindern über 500 Gramm können die Eltern eine Bestattung beantragen.) Obwohl die damit verbundene Bürokratie einem in diesen schweren Stunden viel abverlangt, so ist es doch oft wichtig, daß die Trauer einen Ort hat. Viele Frauen haben mir berichtet, daß es mit einem großen Schmerz verbunden ist, nicht zu wissen, was mit dem Kind geschehen ist, da es früher üblich war, Totgeburten auf einer anonymen Grabstätte in Innsbruck zu beerdigen.
Einen besonderen Trost gab mir auch die Anwesenheit der Wandermuttergottes in den ersten schweren Tagen. Mit allen, die ein Kind verlieren, ist die Muttergottes ganz innig verbunden, auch sie hat ihren geliebten Sohn verloren. Im Kreuzweg heißt es bei der 13. Station (Jesus wird vom Kreuz genommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt): Ihr alle, die ihr vorüberkommt, gebt acht und schaut, ob ein Schmerz dem meinen gleicht. Eines ist gewiß, wer im Leid vertrauensvoll die Worte "Dein Wille geschehe" spricht, dem werden Trost und Beistand durch unseren Herrn und Gott gewährt werden.
Bettina Rahm
Die Autorin ist Pfarrgemeinderat-Obfrau in Zell am Ziller und Religionslehrerin, ihr Beitrag ein Auszug aus: "Zillertaler Glaubensboten"