VISION 20004/2013
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Werden wie die Kinder

Artikel drucken Antwort für eine Zeit, die dem Größenwahn zu verfallen droht

„Werdet wie die Kinder!“ Klingt dieser Appell nicht etwas ver­rückt in unserer Zeit, in der Un­ab­hängigkeit, Mündigkeit, Selbst­verwirklichung das Lebensgefühl bestim­men? Ist dieser Ruf Christi noch zeitgemäß?

Wir stehen vor einem erstaunlichen Phänomen: Seit Jahrzehnten zeigt die Statistik, dass sich die Länder Europas mit wenigen Ausnahmen in einem historisch einmaligen Prozess befinden: einer rasanten Talfahrt der Kinderfreudigkeit. Lange ignoriert, bereitet dieser Vorgang jetzt zumindest den Pensionsversicherungen Sorgen: Wer wird morgen für die explodierende Rentenlast der alternden Bevölkerung aufkommen? Also müssen Kinder her.
Bemühungen, den Trend umzukehren setzen ein: Milliarden werden in den Ausbau von Kinderkrippen, Horten oder Ganztagsbetreuungsstätten gesteckt, um Eltern die Vereinbarkeit von Kind und Beruf zu ermöglichen. Aber der erhoffte Kindersegen stellt sich nicht ein. Warum?
Weil diese keineswegs kindgerechte Lebensgestaltung (siehe Beitrag S. 6-7) Paare, die sich auf das Abenteuer Kind einlassen wollen, dazu motiviert, sich höchstens auf ein Kind, bestenfalls noch auf ein zweites einzulassen. Denn sobald sich ein drittes Kind einstellt, wird das Managen von Kind, Beruf, außerhäuslicher Betreuung unmöglich.  
An dieser Situation wird sich nur dann etwas ändern, wenn die Erkenntnis um sich greift, dass Kinder kostbar sind. Mehr noch: Dass Menschen in ihrem Leben kein größeres Werk vollbringen können, als zum Gelingen des Lebens anderer Menschen, insbesondere der eigenen Kinder beizutragen. Man bedenke: Ein Kind zu zeugen und zur Welt zu bringen, heißt einem unsterblichen Wesen ins Dasein zu verhelfen, berufen, auf ewig der Freude des Lebens bei Gott teilhaftig zu sein.
Natürlich sehen das vornehmlich Christen so. Und, Gott sei Dank, gibt es mehr und mehr christliche Familien, die sich dessen bewusst und daher bereit sind, sich auf eine größere Kinderschar einzulassen – ein Hoffnungszeichen in unseren Tagen. Sie führen uns vor Augen, dass Kinderarmut nicht primär deswegen problematisch ist, weil sie wirtschaftliche und soziale Probleme mit sich bringt, sondern weil sie uns von unserer größten und schönsten Berufung abhält.
Die Schönheit dieser Berufung äußert sich auch darin, dass sich Kinder als Lehrer des Lebens erweisen, vorausgesetzt, man lässt sich auf sie ein: Zunächst eröffnen sie ihren Eltern die Chance, menschlich zu reifen und somit Eigenschaften zu entwickeln, die für jedes gedeihliche Zusammenleben unbedingt notwendig sind. Eigentlich zwingt jedes Kind, das ins Leben seiner Eltern tritt, diesen Verhaltensänderungen geradezu auf. Plötzlich ist da jemand, der in allem auf sie angewiesen ist, dessen Bedürfnisse eben zu befriedigen sind. Die Eltern müssen sich an den Rhythmus des Babys anpassen, Geduld üben, wenn das Füttern nicht recht funktioniert, Blähungen das Beruhigen des kleinen Schreihalses hinauszögern. Die Eltern lernen auch, Verzicht zu üben: Die Freizeitgestaltung muss an den Nachwuchs angepasst werden, die Haushaltsausgaben müssen neu geordnet, Urlaubsreisen an die neuen Möglichkeiten angepasst werden…
Kinder ihren Bedürfnissen entsprechend zu betreuen, ist wahrlich ein Erziehungsprogramm für Eltern. Da trainieren sie Selbstlosigkeit, Geduld, Verzicht, Selbstkritik… Wie wertvoll kann eine bewusst gelebte Beziehung zu den eigenen Kindern sein!
Noch bedeutsamer ist der Lernprozess, den das Wahrnehmen der besonderen kindlichen Eigenschaften ermöglicht (siehe Beitrag S.12f). Kinder führen uns ja vor Augen, dass der Mensch ein Wesen ist, das zunächst vollkommen abhängig von seinen „Erzeugern“ ist. Damit rufen sie eine Wahrheit in Erinnerung, die zur Grundbefindlichkeit jedes Menschen gehört: Wir alle leben in totaler Abhängigkeit unseres Schöpfers. Sicher, wir können uns lange Zeit über diese Tatsache hinwegschwindeln. Wie tief dieses Wissen auch vergraben sein mag, es tritt allerdings meist ins Bewusstsein, wenn jemand in existenzielle Notsituationen ge­rät. Dann erinnern sich auch hartnäckige Agnostiker – ich war so einer – daran, dass es eine höhere Instanz gibt, von der man Hilfe erbitten könnte.
Kinder sind sich ihrer Abhängigkeit bewusst. Daher haben sie große Erwartungen an ihre Eltern, trauen ihnen alles zu, jedenfalls solange man sie nicht schwer enttäuscht. Die Aufforderung des Herrn, zu werden wie die Kinder, wurzelt wesentlich in dieser Haltung: Gott ein unerschütterliches Vertrauen entgegenzubringen, sich alles von Ihm zu erwarten – „Mein Papa kann das“ –, sich nicht gegen Ihn abzusichern. Kinder bauen keine Barrieren des Misstrauens ihren Eltern gegenüber auf, jeden Schmerz tragen sie zu ihrer Mama, im Vertrauen, getröstet zu werden.
Aus dieser Erfahrung heraus legen Kinder auch eine erstaunliche Lebensbejahung an den Tag. Ihre Grundstimmung ist fröhlich, sie können unbeschwert lachen und herzlich sein, sie äußern spontan ihre Gefühle, Zuneigung, Schmerz und Freude, sind aus einem Guss, nicht doppelbödig. Sie nehmen ihre Lebensumstände mit größter Selbstverständlichkeit hin, sind zufrieden mit dem, was eben ist, solange sie die persönliche Geborgenheit bei Mutter und Vater erleben.
Ich belasse es bei diesen Beispielen. Sie, liebe Leser, werden ähnliche Erfahrungen gemacht haben und könnten die Liste wohl erweitern. Eines ist sicher: Es gilt die Kostbarkeit des Kindes neu zu entdecken. Denn nur dann, werden Frauen bereit sein, Kinder zu bekommen, sich ihnen gern zu widmen und auf manche Annehmlichkeit zu verzichten, werden Männer entdecken, wie wichtig und schön ihre Sorge- und Schutzfunktion für den Lebensraum ihrer Familie ist, wird die Bereitschaft wachsen, auch mehreren Kindern das Leben zu schenken, im Bewusstsein, dass das größte Werk, das Menschen aufgetragen ist, darin besteht, Wesen mit einer Berufung zu ewiger Glückseligkeit bei Gott auf den rechten Weg zu führen und auf diesem zu begleiten…
Noch wichtiger aber: die eigene Umkehr zur Kindlichkeit. Geblendet von den enormen wissenschaftlichen und technischen Erfolgen ist das heutige Denken von der Illusion geprägt, menschliche Möglichkeiten seien unbegrenzt. Ein Taumel von Größenwahn treibt die Entwicklung heute voran, nichts ist vor technischen Eingriffen sicher, nicht einmal das menschliche Genom, der Kern der Weitergabe des Lebens. Im Bereich unserer natürlichen Umwelt hat sich das massive Umgestalten bereits vielerorts als existenzbedrohend erwiesen. Warnungen vor Umweltkatastrophen gehören zum Repertoire der Medienberichterstattung.
Meist werden die Öko-Hiobs­botschaften jedoch nicht auf ihre geistigen Wurzeln hin bedacht. Das würde nämlich die Einsicht eröffnen, dass die Menschheit im großen Stil am Werk eines Größeren, am Werk des Schöpfers, des allmächtigen Gottes, aus dessen Hand alles hervorgegangen ist, herumpfuscht. Weil  aber in vielen anderen Bereichen ebenso herumgepfuscht und ohne Kenntnis der Gesamtzusammenhänge verändert wird, mehren sich die Krisen: auf politischer, wirtschaftlicher, vor allem aber menschlicher Ebene.
Zwar wird viel von Reformen verschiedenster Art und in allen möglichen Bereichen geredet, was wir aber eigentlich und zwar dringend brauchen, ist eine fundamentale Umkehr, eine Umkehr zu einer Haltung der Kindlichkeit. Wir sind nicht Herren der Welt, sondern als Kinder Gottes ins Dasein getreten. Wir sind nicht autonom, sondern in ein sinnvoll geordnetes Gefüge hineingestellt. Wir sind nicht die einzigen Akteure in dieser Welt, sondern konfrontiert mit dem souveränen Handeln des allmächtigen Gottes.  Ohne Ihn läuft auf Dauer gar nichts. Jesus Christus hat es uns deutlich gesagt: „Getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen“ (Joh 15,3) – nichts, wirklich nichts, was Bestand haben kann, was wirklich lebensträchtig ist!
Ja, wir alle sind – mehr oder weniger – vom Hochmut geprägt, haben aus den Augen verloren, dass unsere eigentliche Berufung darin besteht, Kinder Gottes zu werden. Aber: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3) Dann ist eben der Weg verfehlt – und sei er noch so mit Wohlstand, Vergnügen, Infos und Macht „gesegnet“. Die Umkehr zur Kindlichkeit ist eine Überlebensfrage – heute mehr denn je. Sie wird uns auch eine tiefe Geborgenheit bei unserem Vater, der weiß, was wir brauchen, bescheren.

Christof Gaspari


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