Takashi Nagai wurde 1908 in der Nähe von Hiroshima geboren; seine Familie war schintoistischen Glaubens und hatte fünf Kinder. 1928 schrieb er sich an der medizinischen Fakultät von Nagasaki ein. „Schon an der Oberschule war ich ein Gefangener des Materialismus geworden. Kaum an der medizinischen Fakultät, ließ man mich Leichen sezieren... Die wundervolle Struktur des Körpers erregte meine Bewunderung. Doch für mich war es nie etwas anderes als pure Materie. Die Seele? Ein von Schwindlern erfundenes Gespenst, um die einfachen Leute zu täuschen.“
1930 erhielt er eines Tages ein Telegramm von seinem Vater: „Komm nach Hause!“ Bei seiner Ankunft erfuhr er, dass seine Mutter einen Schlaganfall erlitten hatte und nicht sprechen konnte. Er setzte sich zu ihr und las in ihrem Blick ein letztes „Auf Wiedersehen“. Diese Erfahrung veränderte sein Leben: „Durch diesen letzten durchdringenden Blick zerschmetterte meine Mutter den ideologischen Rahmen, den ich errichtet hatte. Ihr Blick sagte mir, dass der menschliche Geist nach dem Tode weiterlebt. All das kam wie eine Eingebung, die nach Wahrheit schmeckte.“
Takashi begann die Pensées von Blaise Pascal, einem Philosoph und Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, zu lesen. „Die Seele, die Ewigkeit... Gott. Unser großer Vorgänger, der Physiker Pascal, hat diese Dinge ernsthaft zugegeben!“, sagte er sich. „Wie musste dieser katholische Glaube sein, damit der Gelehrte Pascal ihn akzeptieren konnte, ohne seinem Wissen zu widersprechen? Ich bin stets bereit, eine Hypothese im Labor zu überprüfen. Warum sollte ich jenes Gebet nicht versuchen, auf das Pascal so pocht?“ Er beschloss, eine katholische Familie zu suchen, die ihn während des Studiums als Untermieter aufnehmen möchte.
Er fand bei der Familie Moriyama Aufnahme. Herr Moriyama, ein Viehhändler, stammte aus einer der alten christlichen Dynastien, die trotz der 250 Jahre währenden Verfolgung den vom heiligen Franz Xaver nach Japan gebrachten Glauben bewahrt hatten. Die Reinheit des christlichen Glaubens versetzte den jungen Nagai in Erstaunen: Bescheidene Bauern brachten ihm durch ihr Vorbild das bei, was Pascal, der große Wissenschaftler geglaubt hatte!
Im März 1932 ließ ihn eine schwere Ohrenentzündung am rechten Ohr ertauben und warf seine Zukunftspläne durcheinander: Da er sich des Stethoskops nicht mehr bedienen konnte, musste er auf die übliche Medizin verzichten. So wandte er sich der Radiologie zu, die in Japan noch in den Anfängen steckte.
Die Moriyamas hatten eine Tochter, Midori, die als Lehrerin arbeitete. Alle drei beteten für Takashis Bekehrung. Eines Nachts wand sich Midori in ihrem Bett vor Schmerzen – Blinddarmentzündung. Trotz des hohen Schnees trug Takashi die junge Frau zum Krankenhaus, während Herr Moriyama mit einer Laterne vorneweg leuchtete. Unterwegs merkte er, wie der Puls Midoris zu jagen begann, sie vor Fieber glühte. Er lief schneller. Endlich, das Krankenhaus! Der Operationssaal war vorbereitet und sieben Minuten später war alles vorbei.
Im folgenden Jahr wurde Takashi zur Armee eingezogen, um in der Mandschurei gegen die Chinesen zu kämpfen. In einem Paket von Midori lag ein kleiner Katechismus, den er mit Interesse las. Nach einem Jahr kehrte er verzweifelt nach Hause zurück, da er sich der Zerrüttung seines Lebens bewusst geworden war und die Schrecken des Krieges noch vor Augen hatte. Er nahm seine Arbeit als Radiologe wieder auf und begann, die Bibel und die katholische Lehre zu studieren. Doch die moralischen Anforderungen des Evangeliums, die Notwendigkeit, sich von den religiösen Bindungen seiner Familie zu lösen, hinderten ihn an der Bekehrung.
Eines Tages, als er gerade von Zweifeln geplagt wurde, nahm er wieder Pascals Pensées zur Hand; sein Blick fiel auf einen Satz, der seine Aufmerksamkeit fesselte: „Es gibt genug Licht für die, die sehen wollen, und genug Finsternis für die, die gegensätzlich veranlagt sind.“ Plötzlich wurde ihm alles klar. Er fasste sich ein Herz und bat um die Taufe, die er im Juni 1934 empfing. Er entschied sich für den Namen Paul, im Gedenken an den heiligen Paul Miki, einen japanischen Märtyrer, der 1597 in Nagasaki gekreuzigt worden war.
Zwei Monate später heiratete er Midori. Nagai wurde mehr als ein Arzt: ein Apostel der Nächstenliebe. Er schrieb: „Die Pflicht des Arztes besteht darin, mit seinen Patienten zu leiden, sich mit ihnen zu freuen und zu trachten, ihre Leiden zu lindern, als wären es seine eigenen. Man muss Mitgefühl für ihre Schmerzen haben. Letzten Endes wird nämlich der Kranke nicht durch den Arzt geheilt, sondern nur, weil es Gott so gefällt. Sobald man das begriffen hat, führt die Diagnose zum Gebet.“
Von Juni 1937 bis März 1940 erneut mobilisiert, nahm er als Arzt am chinesisch-japanischen Krieg teil. Sein Einsatz für alle, ob japanische oder chinesische Militärs, Frauen, Kinder und Alte, die schonungslos in entsetzliche Metzeleien verwickelt wurden, nahm heroische Ausmaße an.
Nach seiner Rückkehr entdeckte Takashi beunruhigende Spuren an seinen Händen; zudem fühlte er sich oft erschöpft. Ein Kollege überredete ihn, eine Röntgenaufnahme von sich selbst zu machen. Bei deren Anblick blieb Nagai die Luft weg: Vergrößerung der Milz! Diagnose: Leukämie. Lebenserwartung: drei Jahre. Takashi murmelte: „Herr, ich bin nur ein unnützer Diener. Behüte Midori und unsere zwei Kinder. Mir geschehe nach Deinem Willen.“ Er hatte sein Leben für die Rettung unzähliger Kranker verbraucht, die niemand außer ihm hätte röntgen können.
9. August 1945, 11:02 Uhr: Ein blendender Blitz. In Urakami, dem nördlichen Viertel von Nagasaki, explodiert eine Atombombe und verwüstet Nagasaki: Temperaturen von 9.000 Grad, 72.000 Tote, 100.000 Verletzte. An der Medizinischen Universität, 700 Meter vom Zentrum der Explosion entfernt, wird Nagai, der gerade Filme mit Röntgenaufnahmen ordnete, zu Boden geschleudert, seine Seite von Glassplittern durchsiebt. Über seine Stirn fließt Blut... Bald setzt eine ununterbrochene Flut von Verletzten ein: blutende Gestalten mit zerrissenen Kleidern, versengten Haaren... Eine Schreckensvision.
Nagai verausgabte sich bis an die Grenze seiner Kraft. Erst am 11. August, als die Arbeit etwas weniger drängte, ging Takashi los, um Midori zu suchen, die zu Hause geblieben war, während die Kinder mit ihrer Großmutter in den Bergen in Sicherheit waren. Nur schwer fand er auf dem Gelände voller Schutt und Asche den Platz seiner Behausung. Plötzlich erblickte er die verkohlten Überreste seiner Frau. Auf Knien betete und weinte er. Dann sammelte er ihre Gebeine in ein Gefäß. Plötzlich erglänzt etwas im Staub der Knochen der rechten Hand: ihr Rosenkranz!
Er senkte den Kopf: „Mein Gott, ich danke dir, dass du ihr erlaubt hast, beim Beten zu sterben. Maria, du Mutter der Schmerzen, Dank dafür, dass du sie in der Stunde des Todes begleitet hast... Jesus, du hast das schwere Kreuz getragen, nun hast du ein Licht des Friedens über das Geheimnis des Leidens und des Todes von Midori und von mir gebreitet... Ein seltsames Schicksal: Ich dachte, Midori würde mich zum Grab geleiten... Jetzt ruhen ihre Reste in meinen Armen... Ihre Stimme scheint zu murmeln: Vergib, vergib.“
Die Vergebung Nagais war vollkommen. Er wollte die durch den Verlust ihrer Familie entmutigten Christen zur Einsicht bringen, dass die Atombombe Teil der Vorsehung Gottes war, der aus dem Bösen stets Gutes hervorgehen lässt.
Anfang September lag Nagai im Sterben. Die Strahlung der Atombombe hatte sein Leiden verschlimmert. Er sagte: „Ich sterbe zufrieden“ und fiel in ein Koma. Man brachte ihm Wasser aus der Grotte von Lourdes, die dort in der Nähe von Pater Maximilian Kolbe erbaut worden war. „Ich hörte eine Stimme“, schrieb er später, „die mir sagte, ich solle P. Kolbe bitten, für mich zu beten. Ich tat es. Dann wandte ich mich an Christus und sagte Ihm: ,Herr, ich gebe mich in Deine göttlichen Hände’.“ Am nächsten Morgen war Takashi außer Gefahr; die 6 Jahre Aufschub, die ihm gewährt wurden, schrieb er dem hl. P. Kolbe zu.
Während die Einwohner fürchteten, nach Urakami zurückzukehren, baute sich Nagai in der Nähe seines alten Hauses eine Hütte und begann die Trümmer seines Hauses aufzuräumen. Dabei entdeckte er das Kruzifix vom Familienaltar: „Alles ist mir genommen worden,“ sagte er. „Nur dieses Kruzifix habe ich wiedergefunden.“
Am 23. November 1945 war Nagai eingeladen, bei einem Requiem neben den Ruinen der Kathedrale von Urakami das Wort zu ergreifen. Christi Ermordung auf dem Kalvarienberg erleuchtete für ihn den „Holocaust“ von Nagasaki und verlieh ihm Sinn: „Am Morgen des 9. August explodierte eine Atombombe über unserer Vorstadt,“ sagte er. „In einem Augenblick wurden 8.000 Christen zu Gott gerufen... Um Mitternacht fing an diesem Abend unsere Kathedrale plötzlich Feuer und brannte nieder. Im gleichen Moment gab seine Majestät, der Kaiser, ihren Entschluss bekannt... Der kaiserliche Erlass wurde am 15. August offiziell bekannt gegeben, und die ganze Welt erblickte das Licht des Friedens. Der 15. August ist auch das große Fest der Himmelfahrt Mariä. Nicht umsonst war ihr die Kathedrale von Urakami geweiht... Gibt es nicht eine tiefe Verbindung zwischen der Vernichtung dieser christlichen Stadt und dem Ende des Krieges? War Nagasaki nicht das auserwählte Opfer, das makellose Lamm, der auf dem Opferaltar dargebrachte Holocaust, getötet für die Sünden aller Nationen während des Zweiten Weltkrieges?... Seien wir dankbar dafür, dass Nagasaki auserwählt worden ist!“
1947 zwang die Krankheit Takashi aufs Krankenlager in seiner Hütte. Er musste von seiner Professur zurücktreten und war ohne Einkünfte. So begann er zu schreiben, auf dem Rücken liegend auf einem Zeichenbrettchen, wie es die Schüler benutzen. Es blieb ihm öfters nur noch die Nacht zum Schreiben, denn tagsüber kamen viele Besucher; doch er zeigte ihnen gegenüber keine Ungeduld: „Das ermüdet mich, aber wenn sie so freundlich sind, hierher zu kommen, muss ich mich nicht bemühen, ein bisschen Freude in ihre Herzen zu gießen und ihnen von unserer katholischen Hoffnung erzählen?“
Unter diesen Bedingungen schrieb und veröffentlichte er 15 Bände in vier Jahren. Welches Ziel hatte er sich bei diesen Schriften gesetzt? In der festen Überzeugung, dass ein dauerhafter Frieden nur im Geiste der Liebe errichtet werden kann, die sich in der katholischen Lehre widerspiegelt, betrachtete er es als seine Berufung, die christliche Botschaft zu verbreiten.
Im April 1951 wurde Doktor Nagai Opfer einer Gehirnblutung – am 1. Mai, zu Beginn des Marienmonats. Takashi Nagai wurde neben seiner Frau beerdigt. Für seinen Grabstein hatte er folgende Aufschrift ausgesucht: Armselige Knechte sind wir; was zu tun wir schuldig waren, haben wir getan (Lk 17, 10). Sein Einfluss wuchs dank seiner Bücher, die seit 1948 überall in Japan gelesen wurden und die einen beachtlichen Beitrag zur sozialen Bildung seiner Mitbürger und zur Evangelisierung seiner Heimat leisteten.