Obwohl sie Franzosen waren, lebten Jean-Antoine Ozanam und seine Frau Marie in Mailand, als ihr Sohn Frédéric 1813 geboren wurde. Sie kehrten erst 1816 nach Lyon zurück. Frédéric war zutiefst durch die Erziehung seiner Eltern geprägt, die sich unermüdlich Gott und den Armen widmeten: ,,Auf den Knien meiner Mutter habe ich die Furcht vor dir gelernt, Herr, und in ihren Augen die Liebe zu dir.“ Doch das Kind war von Geburt an schwächlich. Mit sechs Jahren wurde es von einem typhösen Fieber niedergestreckt und genas von dieser schweren Krankheit nur dank der wunderbaren Intervention des heiligen Jean-Francois Régis, zu dem seine Angehörigen inbrünstig gebetet hatten.
Trotz seiner engelhaften Reinheit, seiner ungekünstelten Aufrichtigkeit und seines zarten Mitgefühls für jedes Leid hatte Frédéric einen durchaus schwierigen Charakter. In einem Brief an einen ehemaligen Klassenkameraden beschrieb er sich folgendermaßen: ,,Nie war ich boshafter als im Alter von acht Jahren. Ich war eigensinnig, jähzornig und ungehorsam. Wurde ich bestraft, sträubte ich mich gegen die Strafe... Ich war in höchstem Grade faul. Es gab keine Streiche, die mir nicht in den Sinn gekommen wären.“ Mit neun Jahren wurde er von seinem Vater zum Besuch der fünften Klasse ins königliche Kollegium von Lyon eingeschrieben. Dort wurde sein Charakter dank der Güte seiner Lehrer fügsamer.
Mit 15 Jahren machte Frédéric eine Zeit der Glaubenszweifel durch. Unter dem Einfluss des herrschenden, von Unglauben geprägten Klimas fragte er sich schließlich, warum er glaubte. Widersprachen die neueren Entdeckungen der Wissenschaft nicht dem Glauben? Konnte die Vernunft überhaupt mit Sicherheit die Existenz Gottes erkennen? Diese Fragen bewegten ihn. Mitten in der schlimmsten Anfechtung versprach er dem Herrn, sein ganzes Leben der Verteidigung der Wahrheit zu widmen, wenn er diese vor seinen Augen gnädig aufleuchten lasse.
Gott erhörte ihn und führte ihn zu Abbé Noirot. Dieser Priester und Professor der Philosophie lehrte ihn, den Glauben durch den rechten Gebrauch seiner Vernunft zu untermauern. Bisweilen denkt man, dass man sich zwischen Glauben und Vernunft entscheiden muss; doch das stimmt nicht. ,,Auch wenn der Glaube über der Vernunft steht,“ lehrt das 1. Vatikanische Konzil, ,,so kann es dennoch niemals eine wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben: denn derselbe Gott, der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch [kann] jemals Wahres Wahrem widersprechen.“
Abbé Noirot nahm Frédéric gerne als Begleiter auf seinen Spaziergängen mit. Dabei wurden zwischen Lehrer und Schüler die Fragen der Harmonie zwischen Wissenschaft und Glauben erörtert. Allmählich machten die Zweifel Frédérics der Gewissheit Platz. ,,Seit einiger Zeit,“ schrieb er später, ,,fühlte ich bereits das Bedürfnis nach etwas Festem in mir, woran ich mich festklammern und worin ich Wurzeln schlagen konnte, um dem Ansturm des Zweifels Widerstand zu leisten. Heute ist meine Seele von Freude und Trost erfüllt. In Einklang mit meinem Glauben fand meine Vernunft jetzt jenen Katholizismus wieder, der mir durch den Mund einer hervorragenden Mutter gelehrt wurde und der meiner Kindheit so teuer war.“
1830 schickten Herr und Frau Ozanam ihren Sohn nach Paris, damit er Rechtswissenschaften studiere. Frédéric schloss sich dort einer Gruppe intelligenter und glaubensfester junger Katholiken an: ,,Wir hatten das Bedürfnis, unseren Glauben inmitten der Angriffe zu stärken, denen er von den verschiedenen Systemen der falschen Wissenschaft ausgesetzt war.“
Doch die doktrinelle Bildung und der historische Meinungsaustausch mit seinen Freunden aus dem Glauben heraus genügten Ozanam bald nicht mehr. Während seiner geschichtlichen Vorträge kam von den Zuhörern der Einwand: ,,Sie haben recht, wenn Sie von der Vergangenheit sprechen: Der Katholizismus hat einst Wunder bewirkt; doch heute ist er tot. Denn was machen Sie in Wirklichkeit, Sie, der Sie sich rühmen, Katholik zu sein? Wo sind die Werke, die Ihren Glauben beweisen und die uns dazu bringen können, diesen Glauben zu respektieren und gelten zu lassen?“ Durch diesen schicksalhaften Vorwurf getroffen, rief Ozanam: ,,Damit unser Apostolat von Gott gesegnet wird, fehlt ihm eines: die guten Werke. Die Wohltat für den Armen ist eine Wohltat für Gott.“ Und er machte sich, ohne länger zu zögern, ans Werk. Mit einem Freund, der sein Studentenzimmer teilte, trug er das wenige Brennholz, das ihm für die letzten Wintermonate noch geblieben war, zu einem armen Mann.
Am 23. April 1833 gründeten Frédéric und sechs seiner Freunde die ,,Konferenz der Liebe“ unter dem Patronat des heiligen Vinzenz von Paul. So entstand das karitative Werk der Konferenzen des Heiligen Vinzenz von Paul, das heute 800.000 in 47.000 Konferenzen organisierte Mitglieder in 132 Ländern zählt. ,,Ich will", hatte Ozanam gesagt, ,,die ganze Welt mit einem Netz der Nächstenliebe umspannen". - ,,Ein Anlaß zum Staunen für jeden, der die Geschichte der Kirche studiert - und für den Gläubigen eine Bestätigung ihres göttlichen Ursprungs -, ist die Tatsache der Bereitwilligkeit der christlichen Liebe, zu allen Zeiten Menschen und Werke zur Linderung aller Arten von Not aufzubieten", sagte Pius XII. am 27. April 1952.
Zum materiellen Almosen fügten die neuen ,,Brüder“ die geistliche Wohltätigkeit hinzu: ,,Belehren, raten, trösten, ermutigen sowie vergeben und geduldig ertragen sind geistliche Werke der Barmherzigkeit.“ Die den Armen gespendeten materiellen und geistlichen Wohltaten zeigen die Vitalität der christlichen Liebe. Doch Ozanam dehnte seine Ansichten angesichts der Situation seiner Zeit aus und betrachtete die Erfordernisse der Liebe auch auf sozialer und politischer Ebene: ,,Die Frage, die die Menschen in unserer Zeit teilt“, sagte er, ,,ist keine Frage der politischen Formen, sondern eine soziale Frage: Es geht darum, ob der Geist des Egoismus oder der Geist der Aufopferung den Sieg davontragen wird, ob die Gesellschaft nur eine riesige Ausbeutung zugunsten der Stärksten oder die Aufopferung eines jeden im Dienste von allen sein wird.“
Das Denken und das Wirken Frédéric Ozanams und seiner Gefährten bieten uns ein nachzuahmendes Beispiel, wobei die neuen Bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft berücksichtigt werden müssen. Denn auch wenn die sozialen Ungerechtigkeiten des letzten Jahrhunderts noch nicht allesamt überwunden sind, kommen in der heutigen Zeit andere, nicht minder schwerwiegende Störungen hinzu.
,,Die Ausbeutung zugunsten der Stärksten", von der Ozanam sprach, äußert sich heute in der Vernichtung der Schwachen, d.h. der ungeborenen Kinder. Deswegen hört die Kirche nicht auf, das Verbrechen der Abtreibung anzuprangern. Sie ermahnt alle Menschen und insbesondere die Christen dazu, ihre Erfindungsgabe einzusetzen, um schwangeren Frauen, die diesem Drama ausgesetzt sind, beizustehen und ihnen beim Annehmen und bei der Erziehung ihres Kindes zu helfen (ohne Kompromiss mit unsittlichen, todbringenden Gesetzen). Die Verachtung des Lebens äußert sich auch in der Euthanasie.
Einige Jahre vergingen. Ozanam erhielt zweimal den Doktortitel; als brillanter Promovierter der Pariser Fakultät bekam er einen Lehrstuhl für Handelsrecht in Lyon, später wurde er Professor an der Sorbonne. Doch sein Lebensstand war noch nicht festgelegt, und er schwankte zwischen der religiösen Berufung und der Ehe. Die völlige Hingabe an Gott durch das Gelübde der Keuschheit zog Frédéric an. Andererseits erwog er auch den ehelichen Bund, gegen den er zunächst starke Bedenken hatte.
Eines Tages, als er den Rektor der Lyoner Akademie besuchte, bemerkte er zufällig ein junges Mädchen, das seinen gelähmten Bruder zärtlich umsorgte. ,,Die liebenswürdige Schwester und der glückliche Bruder!" dachte er. ,,Wie sie ihn liebt!“ In Amélie Soulacroix, der Tochter des Rektors, war ihm das lebendige Abbild der Liebe erschienen. Die Erinnerung an diese Szene ließ ihn nie mehr los. Dieses Mädchen verkörperte das Ideal, das er sich von der christlichen Frau gemacht hatte. Die Hochzeit mit Amélie fand am 23. Juni 1841 statt.
Die Ernennung Frédéric Ozanams zum Professor für ausländische Literaturgeschichte an der Sorbonne im Januar 1841 gab ihm die Möglichkeit, seiner Berufung zum Apologeten zu folgen. Er bemühte sich fortan, den katholischen Glauben von der Geschichte aus zur Geltung zu bringen.
Durch eine geheimnisvolle Fügung der Vorsehung sollte dieses so erfüllte Leben bald zu Ende gehen. 1852 war Frédéric 39 Jahre alt geworden. Er war nie sehr gesund gewesen. Alles, was er getan hatte, tat er unter Schmerzen; seine blasse Gesichtsfarbe kündete recht vernehmlich davon. Er wurde in 18 Monaten von einer Rippenfellentzündung dahingerafft. An seinem 40. Geburtstag, dem 23. April 1853, verfasste er sein Testament: ,,Ich weiß,“ schrieb er, ,,dass ich eine junge und heißgeliebte Frau, eine reizende Tochter, viele Freunde, eine ehrenvolle Karriere und genau so weit fortgeführte Arbeiten besitze, dass sie für ein lange erträumtes Werk als Grundlage dienen könnten. Doch ich bin von einer ernsten, heimtückischen Krankheit befallen... Muss ich, mein Gott, all diese Güter, die Du mir selbst geschenkt hast, verlassen? Willst Du nicht, Herr, nur einen Teil des Opfers? Welche meiner überbordenden Leidenschaften soll ich Dir opfern? Wärst Du nicht mit der Ermordung meiner literarischen Eigenliebe, meines akademischen Ehrgeizes, ja selbst meiner wissenschaftlichen Vorhaben zufrieden, in die sich vielleicht mehr Stolz als Eifer für die Wahrheit mischt? Wenn ich die Hälfte meiner Bücher verkaufen würde, um den Preis dafür den Armen zu geben; und wenn ich mich auf die Erfüllung meiner beruflichen Pflichten beschränken und mein ganzes restliches Leben darauf verwenden würde, Bedürftige zu besuchen, Lehrlinge zu unterweisen..., Herr, wärst Du dann zufrieden, ließest Du mir dann die Freude, neben meiner Frau alt zu werden und die Erziehung meines Kindes zu vollenden? Vielleicht willst Du das gar nicht, mein Gott. Du willst diese eigennützigen Opfer nicht annehmen... Mich willst Du... Ich komme.“
Am 8. September 1853, dem Fest der Geburt der allerseligsten Jungfrau, tat Frédéric Ozanam gegen 20 Uhr einen langen Atemzug. Es war sein letzter. Maria war gekommen, um ihr geliebtes Kind zu holen und in die unbeschreibliche Freude der Ewigkeit einzuführen.
Dom Antoine Marie osb