Ort der Handlung: Marseille, eine Pfarre mit 25 Prozent muslimischer Bevölkerung und ein Prozent praktizierender Katholiken. Sonntags 50, manchmal nur 10 Messbesucher. Die Kirche meistens verschlossen. 2004 kommt ein neuer Pfarrer, spätberufen, mit Künstlervergangenheit. „Öffne mir die Tore, so weit wie möglich,“ gibt ihm der Erzbischof mit. Rückblick auf einen erstaunlichen Neuaufbruch.
Père Michel-Marie kannte die Situation in seiner neuen Pfarrstelle nicht im Einzelnen. Deshalb gab man ihm noch in seiner bisherigen Pfarrei den üblichen Rat, sich ein Jahr lang erst alles anzusehen und keine Änderungen vorzunehmen. Doch trieb unseren Priester eine unerklärliche Kraft, intuitiv genau das Gegenteil zu tun: Er entwarf ein detailliertes Programm, wie das Pfarrleben in St. Vinzenz von Paul künftig aussehen sollte! „Ich denke,“ meint Père Michel-Marie, „Jesus hat mir da gesagt: ,Wenn du mit den Änderungen nicht sofort beginnst, wirst du sie später nicht mehr durchführen können’.“
Das Erste, was der neue Pfarrer also nach seiner Ankunft im September 2004 tat, war, die Kirche wieder zu öffnen, und zwar 12 Stunden am Tag. „Ich kündigte an, dass die Heilige Messe in Kürze täglich und in der großen Kirche gefeiert werde, nicht mehr in der gut heizbaren Krypta ... Es war aber bitter kalt!“ Unverzüglich machte sich Père Michel-Marie daran, den Tabernakel zu reinigen. Dann putzte er mit Hilfe freiwilliger Helfer während mehrerer Wochen die ganze Kirche.
Er stellte die Gottesmutter in die Mitte, indem er die lkone „Unsere Liebe Frau von der Immerwährenden Hilfe“, die unbeachtet an einer Säule hing, über seinem Priestersitz am rechten Pfeiler im Presbyterium anbrachte. „Am Anfang standen also ein sehr großes Vertrauen in Jesus und Maria und viel, viel Arbeit. Ich habe sofort begonnen, Entscheidungen zu treffen…“
Wie haben die Menschen auf diese Änderungen reagiert? „Ich habe mich bemüht, sehr gütig zu den Einzelnen zu sein, habe niemanden nach Hause geschickt und nie gesagt: ,Gute Frau, hören Sie auf damit!'– Mit den Monaten habe ich versucht, allen verständlich zu machen: Wenn wir auf dem bisherigen Weg weitergehen, können wir die Pfarrei in fünf Jahren schließen. Das war sicher! ... Doch gab es da etwas Geheimnisvolles: Anfangs hat sich niemand beschwert. Denn sofort kamen etwa 250 Menschen zur Sonntagsmesse! Meine Mitbrüder meinten: ,Mach dir keine Hoffnungen, das ist nur der Neuigkeitseffekt, in zwei Wochen bist du wieder bei deinen 50.’
Doch wir sind nie mehr zu dieser kleinen Zahl zurückgekehrt. Der Zustrom der Gottesdienstbesucher nahm laufend zu ... Gott hat mir durch verschiedene Zeichen zu verstehen gegeben, dass ich weitermachen musste… Inmitten von all dem aber gab es viel Leiden, viele und sehr schwere Prüfungen, die eigentlich bewirkten, dass die Fruchtbarkeit der Arbeit gesichert war. Ja, in gewisser Weise waren sie notwendig, aber wenn du mitten drin stehst, empfindest du sie als ungerecht. Es ist überaus schmerzlich, und ich wünsche diese Erfahrung niemandem.“
„Wenn man eine Kirche betritt, muss man von der Schönheit des Raumes ergriffen sein, seine Sakralität spüren können,“ sagt Père Michel-Marie. Deshalb stand für den neuen Pfarrer eine gründliche Reinigung der vernachlässigten Kirche ganz am Anfang. „Die Gegenwart Christi im Tabernakel erfordert diese absolute Sauberkeit!“ Er machte die Sakristei wieder zu einem wahren Ort der Stille und Sammlung. Er ließ die liturgischen Geräte reinigen und neu vergolden, neue Paramente und Altardecken anfertigen. Im Dienst am Geheimnis der Gegenwart Gottes und der Heiligen Messe bekommt alles Schöne seinen Sinn. Das spüren die Menschen, und so fehlte es auch in Zeiten der Finanzkrise nicht an Wohltätern, deren Herz Gott durch die Gnade öffnete. Gott gibt da, wo Er geehrt wird,“ weiß der Priester aus Erfahrung.
Dem Geheimnis der Heiligen Messe und der Schönheit der Liturgie gibt Père Michel-Marie maximalen Raum. „Sie muss das Herz berühren.“ Er lässt sie für sich sprechen, ohne einleitende Worte und eingeschobene Erklärungen. Dafür ist jede Geste ruhig und betont, sein Blick verrät Sammlung und liebendes Bewusstsein dessen, was er vollzieht. Die Musik trägt das ihre dazu bei. So erlebt sich die Gemeinde durch den Priester in die Welt Gottes hineingenommen.
Und so ist die Kirche seit Jahren zur Sonntagsmesse mit 700 bis 800 Gläubigen aus ganz Marseille und anderen Städten, Menschen jeden Alters, aller sozialen Schichten und jeder Hautfarbe überfüllt! Schon eine halbe Stunde vor Messbeginn ist die Hälfte der Bänke gut gefüllt und es herrscht andächtige Stille. Die Predigt ist für Père Michel-Marie allein das Mittel während der Heiligen Messe, um einen direkten und sehr familiären Kontakt zu den Menschen herzustellen. Viele kommen nur, um seine kraftvollen Predigten zu hören, die leicht verständlich, tief und im Alltag gut anwendbar sind. Wichtig ist dem Pfarrer, die Gottesdienstbesucher nach der Sonntagsmesse draußen vor dem Portal alle (!) persönlich mit einem freundlichen Wort zu verabschieden.
„Wenn Sie so wollen, gibt es bei uns nichts Besonderes, es gibt keine Gruppen, keine Bewegungen. Alles geschieht um die Heilige Messe, die Heilige Beichte und den persönlichen Kontakt herum.“
Nicht einmal Sitzungen gibt es. Alles Nötige bespricht Père Michel-Marie mit den jeweiligen seiner etwa 60 ehrenamtlichen Mitarbeiter meist beim gemeinsamen Frühstück oder Mittagessen. Es herrscht eine fruchtbare, vertrauensvolle Atmosphäre. „Die Organisation einer Pfarrei,“ erklärt der Priester, „muss dem Leben in einer Familie gleichen, wo jeder seine Rolle erfüllt. Man darf nicht die Mission des Priesters mit den Aufgaben der Laien vermischen, da sie unterschiedlicher Natur sind.“ Darin ist er sich mit seinen Gläubigen einig.
Der Talar ist für Père Michel-Marie die „Arbeitskleidung“, die ihm erlaubt, gerade mit Menschen in Kontakt zu kommen, die gewöhnlich nicht zur Kirche gehen. Er ist überzeugt: „Jeder hat ein Recht darauf, den Priester zu erkennen. Der Dienst, den wir tun, ist so wesentlich für das Heil der Menschen, dass unsere Sichtbarkeit zum wirksamen Mittel wird, der übernatürlichen Welt zu begegnen ... In einer Welt, die Gott zurückweist, sind diese starken Zeichen nötiger denn je.“
Wenn er allmorgendlich um acht Uhr die Kirche aufgesperrt und Beichte gehört hat, geht er frühstücken, jedoch nicht in seine Wohnung, sondern hinaus auf die Canebière, eine der belebtesten Einkaufsstraßen, trinkt in einer der Bars einen Kaffee, spricht mit den Leuten, lädt jemanden auf ein Croissant ein. „Durch den einfachen menschlichen Kontakt können wir viele Vorurteile in den Köpfen der Menschen abbauen, die sie hindern, etwas von der Kirche zu erwarten. Zum Beispiel, die Kirche sei reich und würde sich in ihr Leben einmischen, die Priester seien nicht fähig, bescheiden zu leben…“
So verbringt der Pfarrer täglich bewusst einige Zeit im Talar auf der Straße unter den Leuten, auf der Post oder beim Zeitungsverkäufer. Auch der Kontakt zu den Muslimen ist sehr freundschaftlich. „Hier auf der Canebière kennt mich jeder ... Und wenn einer ein Problem hat, kommt er zu mir ... Denn die Menschen wissen, dass der Pfarrer vor der Abendmesse wieder im Beichtstuhl und danach in seinem Sprechzimmer neben der Sakristei bis 22 Uhr für jedermann verfügbar ist ...
Der Weltpriester ist wie eine mütterliche Gegenwart in der Gesellschaft, wie eine Familienmutter, die einfach da ist und alles liegen und stehen lässt, wenn ihr Kind Hilfe bei den Mathehausaufgaben braucht ... Das erfordert eine große Verfügbarkeit, aber ich meine, es zahlt sich aus. Doch geht es hier nicht um eine pastorale Methode. Diese Bereitschaft muss aus tiefstem Herzen kommen.“
Ein Grund für seine volle Kirche ist sicher auch der missionarische Eifer der Gläubigen, die Freunde und Bekannte, die „auf der Suche“ sind, einladen, nach St. Vinzenz von Paul mitzukommen. „Ich sage ihnen immer: Seid Hirtenhunde, die die Schafe suchen und sammeln. Und sie bringen enorm viele Leute herbei.“
Doch viele haben auch dank einer „zufälligen“ Begegnung mit Père Michel-Marie auf der Straße, dank der sichtbaren Präsenz und übernatürlichen Güte, die er ausstrahlt, wieder in die Kirche zurückgefunden. „Leute, die 40, 50 Jahre nicht zur Heiligen Messe gegangen waren, sind jetzt plötzlich da.“ So kommt es nicht von ungefähr, dass es in der Pfarrei sehr viele Taufen gibt. 2012 waren es 171, davon viele Erwachsenentaufen. „Ich habe,“ so der Pfarrer, „einen 91-jährigen Mann getauft und ihn vor der ganzen Gemeinde gefragt: Wollen Sie ein Kind Gottes werden? Er antwortete : .Ja, ja!“ Er kam in Hausschuhen. Das war sehr, sehr schön, alle haben applaudiert.“
Hinter all dem Aufblühen steht, als Geheimnis des Père Michel-Maria, die diskrete und zugleich starke Gegenwart der Gottesmutter. „Denn ohne sie,“ davon ist er überzeugt, „wird alles kirchliche Leben garantiert steril ... An ihr entscheidet sich alles.“
Nachdem er ihre lkone an zentraler Stelle in der Kirche angebracht hatte, weihte der Pfarrer bald darauf seine ganze Pfarrei dem Unbefleckten Herzen Mariens, die in seiner Kirche auch unter dem schönen Titel „Unsere Liebe Frau von der Allmacht“ verehrt wird. Er führte ein, dass täglich drei Rosenkränze gebetet werden, einer zu Mittag, einer abends vor dem ausgesetzten Allerheiligsten, geleitet von den Jugendlichen, zu dem mittlerweile 150 bis 200 Menschen kommen, und der dritte nach der Abendmesse.
„Und seitdem,“ versichert der Priester, „schwimmen wir in Gnaden! Versucht es nur, und ihr werdet sehen! ... Auf Dauer ist der Segen, der auf der Pfarrei ruht, ,kein Wunder', das kommt nicht vom armen Pfarrer, sondern von Maria, die da ist und will, dass wir weitermachen.“
Seitdem Père Michel-Marie die Gottesmutter in seiner Jugendzeit durch die Salesianerpatres entdeckte, hat sich seine Liebe zu ihr immer mehr entfaltet – „auf sehr starke und lebendige Weise ... Es ist ein gemeinsames Leben mit ihr geworden. Ich spreche mit ihr, wir arbeiten zusammen, alles in großem Vertrauen ... Auch ist es eine höchst missionarische Verehrung: sie bekannt zu machen als den Weg, um zu ihrem Sohn zu gelangen. Ich denke, der Grund, weshalb die Evangelisation nicht vorankommt, ist, dass man Maria nicht kennt.“ So sieht Père Michel-Marie als „Haupttriebkraft“ der Erneuerung: Maria, die Heilige Messe und ein sichtbares und mit ganzer Hingabe gelebtes Priestertum. Von Gott muss alles ausgehen: Die Zukunft der Kirche wird über die Erneuerung des Priestertums führen.“
Quelle: Homme et prêtre. Von Michel-Marie Zanotti-Sorkine, éd. Ad Solem, zitiert in „Triumph des Herzens“ Nr. 118