Bewahre uns vor Verwirrung und Sünde“, betet der Priester nach dem Vater?unser in der Heiligen Messe. Daß Christen „vor Sünde“ bewahrt werden wollen, ist klar, aber was ist die „Verwirrung“, von der hier die Rede ist? Warum wird sie in einem Atemzug mit der Sünde genannt? Hängt Verwirrung mit Sünde zusammen, wenn ja, wie? Ist „Verwirrung“ dasselbe wie Irrtum und wenn nein, was ist sie dann?
Der Reihe nach: Griechisch heißt der Teufel „Diabolos“, übersetzt der, „der durcheinander wirft“, der „Verwirrer“. Wenn „Verwirrer“ eine Wesensbezeichnung des Teufels ist, begreift man sofort: Der „Vater der Lüge“, wie Jesus den Teufel nennt (Joh 8,44), ist auch der große „Verwirrer“ und seine Verwirrungen führen immer auch zur Sünde.
Nach dieser ersten Orientierung ist klar: Die gemeinte „Verwirrung“ ist nicht die des Schülers, der die Zahlen seiner Mathe-Aufgabe durcheinanderbringt. Gegenstand der teuflischen „Verwirrung“, gegen die sich das Gebet der Kirche richtet, sind vielmehr verwirrte Gottesbilder, Menschenbilder, Weltbilder und „Wert-Systeme“. In Folge dieser Verwirrungen beginnen die Menschen, sich vor Gott zu fürchten, sich selbst nicht mehr zu achten, die Schöpfung nicht mehr zu verstehen. Sie fangen an, das Gute böse und das Böse gut zu nennen (Jes 5,20).
Wodurch unterscheidet sich Verwirrung von Irrtum? Zugegeben, die Grenzen zwischen Irrtum und Verwirrung sind fließend, jede Verwirrung ist auch Irrtum, jeder Irrtum neigt zur Verwirrung. Der Unterschied liegt wohl darin: Bloßer Irrtum unterläuft einem sachlichen, vernünftigen Menschen. Die Verwirrung hingegen entsteht aus der Vermischung von Irrtum und Absage an Vernunft und gesunden Hausverstand!
Darum ist sie schwer greifbar, so wenig auflösbar wie ein Vorurteil, in das sie oft hinein kristallisiert. Verwirrung ist immun gegen vernünftige Argumente, sie hat Ähnlichkeit mit einem Rausch: Angesichts meiner kritischen Analyse des Kirchenvolksbegehren sagte mir vor Jahren Kardinal Hans-Hermann Groer: „Ich habe die NS-Zeit erlebt, es war wie ein Rausch. Auch jetzt ist es so, mit Vernunft wirst Du nichts dagegen ausrichten!“ Und Papst Benedikt XVI. sagte einmal: Wer Kinder zwingt, Verwirrtes zu glauben, macht sie anfällig für Manipulation!
Einwand: Das macht doch niemand!
O Doch: Wer Kindern etwa einzureden sucht, jedes Kind könne wählen, ob es „Junge oder Mädchen“ sein wolle, verwirrt und begeht damit einen Miß?brauch, für den er bestraft werden sollte wie für anderen Mißbrauch auch! Ähnliches gilt für die heute „politisch korrekte“ und im Gesetz verankerte Frühsexualisierung der Kinder! Besonders gefährlich sind jene Verwirrungen, denen es gelungen ist, sich die Gestalt einer politischen Ideologie zu geben.
Und weiter: Manche Verwirrung nistet sich in das Lehrgebäude einer Wissenschaft ein wie ein Parasit in einen Wirtsorganismus und zerstört sie so von innen: Etwa der Glaube an einen magischen „Zufall“ als Erklärung für die fantastische Welt der Tiere und Pflanzen und sogar des Menschen! Und dies, obwohl dieser „Glaube“ durch keine Erfahrung gedeckt ist und sich jeder experimentellen Überprüfung entzieht, also dem Anspruch der wissenschaftlich-kritischen Vernunft absolut nicht entspricht!
Andere Beispiele für „Verwirrung“ sind: Der Rassismus und der damit verbundene Glaube an die Höherwertigkeit der eigenen Rasse, ebenso der marxistische Glaube an die „klassenlose Gesellschaft“, herstellbar durch Enteignung und Terror.
Und heute? Leben wir in einer Zeit der Vernunft ohne Verwirrung? Mitnichten: Jetzt versucht man, die Wirklichkeit nicht nur durch Technik zu verändern, sondern durch Neubestimmung von Begriffen! Als ob man die – tatsächlich wunderbare – Macht des Menschen über die Materie beliebig ausdehnen könnte, indem man den Wörtern einen anderen Sinn unterschiebt und den Dingen ihre Bezeichnung raubt! Es ist, als ob ein armes Land glaubte, es könne sich mit Geld-Druck-Maschinen über Nacht in ein reiches Land verwandeln! Aber wird aus dem Mond eine Sonne, wenn man, um den Mond nicht zu diskriminieren, auch den Mond Sonne nennt? Wird aus einem Dummkopf ein gescheiter Mensch, wenn man ihm ein Ehrendoktorat zuspricht? Wer würde sich von einem nur „Ehrendoktor der Medizin“ gerne behandeln lassen?
Ein aktuelles Beispiel für diese Art der Verwirrung, die sich zudem einer weiteren Verwirrung als Mittel bedient, ist der Streit gegen die Familie: Weil in den ideologischen Nachfahren des Marxismus bis heute das Dogma vererbt wurde, man sollte die Familie zerstören, verwirren sie gerne ihre Umwelt durch die Behauptung, sie hätten eben ein „anderes Verständnis“ von Familie. Etwa so, wie mir kürzlich eine einflußreiche Politikerin sagte:: „Für mich“ ist Familie überall dort, wo Menschen füreinander Verantwortung übernehmen“!
Die Widervernünftigkeit dieser Art von Verwirrung läßt sich an diesem Beispiel besonders deutlich zeigen: Erstens sind die Wörter „für mich ist“ als Einleitung zu einer Sachverhaltsdarlegung Unsinn und verwirrend in einem, weil unterstellt wird, die Existenz oder Nicht-Existenz eines Sachverhalts sei abhängig von der subjektiven Befindlichkeit oder den Gefühlen des Redners. Man kann sagen: „Für mich sind 10 Grad unter Null noch nicht kalt“, weil der eine die Kälte leichter aushält als der andere, aber man kann nicht sagen: „Für mich hat es heute Minus 10 Grad“, weil jedes Kind versteht, daß die Temperatur so ist, wie sie ist, und für alle Menschen „gleich“, auch wenn sie sie „ungleich“ empfinden.
Zurück zum Familienbegriff: Wenn jemand die Situation der Verantwortung eines Menschen für andere „Familie“ nennt, müßte er folgerichtig auch die Belegschaft eines Gefängnisses, eine Schule oder ein Krankenhaus „Familie“ nennen und eigentlich auch jede Großstadt, weil es in jeder Stadt einen Bürgermeister und eine Stadtregierung gibt, die eine gewisse „Verantwortung“ für die Einwohner der Stadt tragen, also „Familie“, auch wenn es Millionen sind!
Man spürt die Absicht: Mit der Vernebelung dessen, was Familie ist und, alles in allem, seit Beginn der Menschheit so genannt wurde, will man die Familie abschaffen und so die Gesellschaft in eine letztlich familienlose Menge von Einzelmenschen umbauen. Dann ist es folgerichtig, die Kinder von der Krippe bis zum Schulabschluß zu verstaatlichen, die Frauen in die Arbeit zu locken und bei all dem so zu handeln, als wäre der Staat der Großbesitzer seiner Bürger…
Eines zeigt die Geschichte jedenfalls: Kleine Verwirrungen bringen kleine Übel hervor, aber große Verwirrungen sind höchst gefährlich! Einfacher gesagt: Die Leugnung der Vernunft ist eine Katastrophe für die Menschen, auch wenn diese oft erst zeitverzögert ausbricht.
Das alles wirft die drängende Frage auf: Und was schützt vor Verwirrung, was hilft, die Menschen gegen sie zu immunisieren, welche Möglichkeiten gibt es, sie zu durchschauen und wieder frei von ihr zu werden? Die Antwort ist eigentlich einfach: Der erste Imperativ des Gewissens, sagt der Philosoph Josef Seifert, lautet: „Suche die Wahrheit!“ Man könnte auch sagen: Liebe die Wahrheit, hange ihr an mit der ganzen Kraft deiner Seele, bleibe ihr treu!
Tu dies, sagt das Gewissen weiter, selbstkritisch, demütig, lernbereit, aber auch bereit zu Widerstand und Opfer um der Wahrheit willen. Es handelt sich bei dieser Wahrheitssuche um eine Art Keuschheit des Verstandes, der sich von jeder Verführung durch Lüge, durch die Anpassung an das, was „man“ denkt, durch den Glanz einer Idee, die dem eigenen Ego schmeichelt, fernhält. Wenn Verwirrung mit dem Verlust des Hausverstandes einhergeht, kann man sie nur besiegen durch Rückkehr zu eben diesem Verstand! So, wie man Dehydrierung in einer Wüste nur durch Trinken von Wasser, viel, viel Wasser hintanhalten kann!
Der Glaube baut auf der natürlichen Tugend der Wahrheitsliebe auf. Er kann der natürlichen Vernunft auf eine unerhört neue, positive Weise weiterhelfen, wo sie, auf sich und ihre eigenen Kräfte allein angewiesen, möglicherweise scheitern würde: Denn der Glaube verweist auf die vom verwirrten Zeitgeist so oft verspottete „gesunde Lehre“ der Kirche (2 Tim 4,3)! Diese schützt und immunisiert besser als alles andere gegen die „Fabeln“ der jeweiligen Zeit, wie Paulus, aber auch Petrus die Verwirrungen nennen (1 Tim 4,7; Tit 4,4, 2 Petr 1,16).
Wahr ist zwar, daß z.B. in der Nazi-Zeit auch Katholiken, und nicht nur Ungebildete, auf Hitler hereingefallen sind. Und doch bleibt ebenso wahr: Jene Menschen, die sich wirklich konsequent und „mit Hirn“ an die Kirche hielten, blieben immun. So bleiben auch heute jene immun, die sich „auf den Felsen Petri“ flüchten und die Welt, ihre Ideologien und Verwirrungen „von dort oben“ her in den Blick nehmen und durchschauen. In einem anderen Bild: Wer in das Spinnenetz einer ideologischen Verwirrung geraten ist, wird die klebrigen Fäden kaum mit eigener Kraft entwirren oder zerreißen können.
Mit dem Bild des hl. Paulus (Eph 6,13ff) kann man nur raten: „Ergreift die ganze Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag widerstehen und, wenn ihr alles ausgerichtet habt, stehen bleiben könnt! So steht nun, eure Lenden umgürtet mit Wahrheit, bekleidet mit dem Brustpanzer der Gerechtigkeit und beschuht an den Füßen mit der Bereitschaft zur Verkündigung des Evangeliums des Friedens! Bei alledem ergreift den Schild des Glaubens, mit dem ihr alle feurigen Pfeile des Bösen“ – und hier könnte man einfügen: die Pfeile der Verwirrung – „auslöschen könnt! Nehmt auch den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das ist Gottes Wort!“
Weihbischof Andreas Laun