VISION 20001/2014
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„Ich akzeptiere den Willen Gottes“

Artikel drucken Cao Vu Pham, Fr. Guerricus, Zeuge der lebendigen Kirche im kommunistischen Vietnam (Von Alexa Gaspari)

Kaum habe ich den ungemein sympathischen, feingliedrig, ja zart wirkenden Fr. Guerricus kennengelernt, ist er auch schon wieder zurück in seiner Heimat Vietnam, um dort im kommenden Jahr zum Priester geweiht zu werden. Es war der gemeinsame Geburtstag, den er und ich haben – mit etlichen Jahren dazwischen allerdings –, der mich bei einer Aussendung der Zisterzienser von Heiligenkreuz auf ihn aufmerksam gemacht hatte.
Diesen Priesterstudenten aus Vietnam wollten wir gern unterstützen und auch Näheres über seinen Lebensweg erfahren. Im Vorraum des prächtigen Kaisersaals in Heiligenkreuz sitzen wir einander dann gegenüber. Gleich habe ich den Eindruck, dass er mir so gut er kann – Deutsch ist eben doch nicht seine Muttersprache –, bei meiner Recherche behilflich sein und auf meine Fragen eingehen möchte.
Geboren wurde er 1963 in Gialai in Südvietnam in eine katholische Familie mit drei Schwestern und vier Brüdern. Es ist das Jahr, so lese ich später bei Wikipedia, in dem der damalige Staatschef Diêm durch einen Militärputsch gestürzt und ermordet wird. Viele politische Machtwechsel sind die Folge. Vietnam war 1954 durch die Genfer Konferenz in die nördliche, von den kommunistischen Viet Cong regierte „Demokratische Republik Vietnam“ und die südliche „Republik Vietnam“ geteilt worden – eine Teilung, mit der sich die Kommunisten nicht abfinden wollten.
Caos Vater ist damals aus Krankheitsgründen arbeitsunfähig. So muss die Mutter versuchen, die große Familie mit dem kleinen Geschäft, das sie betreibt, sowie mit Gartenarbeit über Wasser zu halten. In die Kirche gehen alle regelmäßig: Kinder, Eltern und der Großvater. Cao besucht später 12 Jahre eine katholische Schule in Saigon, der Hauptstadt Südvietnams. „Sie war von einem sehr guten Priester gegründet worden,“ erklärt mir mein Gegenüber. „Da habe ich viel für meinen Glauben gelernt.“
Nach dem Krieg und der Übernahme Süd­vietnams durch die Kommunisten, fügt er hinzu, habe es natürlich keine katholischen Schulen oder Universitäten mehr gegeben.
Zurück zum Vietnamkrieg: Mitte der 60-er Jahre traten die USA zunächst hauptsächlich in einen Luftkrieg gegen das kommunistische Nordvietnam ein. Bis 1968 eskalieren die Kämpfe. Obwohl die USA militärisch den Kommunisten weit überlegen zu sein schienen, wird jedoch erkennbar, dass sie den zermürbenden Krieg nicht gewinnen würden: Teile Saigons werden von in den Süden eingesickerten, kommunistischen Partisanen eingenommen. Als Cao 10 Jahre alt ist, endet die Kriegsbeteiligung der USA und die Nordvietnamesen setzen erfolgreich den Kampf gegen Südvietnam fort: Eine sehr schwere Zeit – vor allem auch für Christen – beginnt.
Vietnam ist ein großes Land mit über 50 Provinzen und rund 89 Millionen Einwohnern, in dem große Armut herrscht. „Doch unser Glaube war stärker als die Armut,“ erinnert Fr. Guerricus sich an diese Jahre, in denen die Familie weiter ihren Glauben praktiziert. Mitte der 70er Jahre kapituliert Südvietnam bedingungslos, Nord- und Südvietnam werden unter dem Namen „Sozialistische Republik Vietnam“ vereint. Soldaten desertieren, 1,6 Millionen Südvietnamesen verlassen per Boot das Land. Klöster und Priesterseminare werden geschlossen. Mittlerweile ist die Situation aber, Gott sei Dank, etwas besser geworden.
Jetzt war der Vietnamkrieg also zu Ende, doch nun kam es zu militärischen Auseinandersetzungen mit dem von der Volksrepublik China unterstützten kommunstisch-maoistischen Regime der Roten Khmer in Kambodscha. Es zerstörte mit unvorstellbarer Grausamkeit sämtliche bestehende Gesellschaftsstrukturen. Zwei Millionen Opfer sind die Bilanz dieses Genozids mit seinen rund 100 Vernichtungslagern. Es genügt schon, lesen und schreiben zu können, um ins Visier der Mörder zu geraten.
In diese Hölle wird nun mein Gegenüber 1983 als 20-Jähriger eingezogen. Für die nächsten vier Jahre muss er in Kambodscha gegen die Roten Khmer kämpfen. „Es war wirklich schrecklich. Der Krieg war extrem häss­lich. In Kambodscha sollten wir die Bevölkerung vor der Ermordung durch die Roten Khmer schützen. Ich habe dort sehr viele Kameraden verloren,“ erinnert sich Fr. Guerricus an die grauenhaften Kämpfe.
„Wie sind Sie damit zurechtgekommen?“ frage ich ihn. „Ich habe mir gedacht: Ob ich überlebe oder nicht, ich akzeptiere den Willen Gottes. Ich war sehr dankbar für den starken Glauben, den ich vor allem durch meinen Großvater seit meiner Kindheit mitbekommen hatte.“ So war er etwa fest davon überzeugt, die Muttergottes würde ihn auch mitten im Gefecht nicht verlassen. Und wenn er auch damals nicht in die Messe gehen konnte, so betete er doch, bei Tag und bei Nacht, so oft wie möglich, den Rosenkranz und bat um Frieden zwischen den Menschen. Das half ihm zu überleben und das Schreckliche zu überwinden.
1988 – endlich wieder daheim! Dankbar dafür, dass er überleben durfte (der Konflikt zwischen den Ländern endet ohne klaren Sieger. 1989 zieht sich Vietnam ganz aus Kambodscha zurück.)
Das Leben ist schwierig, die finanziellen Verhältnisse sind katastrophal, das Land ist abgekapselt. Viele gute Leute sind tot oder geflohen. Gemeinsam mit den Geschwistern ist zu­nächst Feldarbeit angesagt, um für die Familie, so gut es geht, zu sorgen. Zu allem Elend kommen jährlich katastrophale Stürme, die ganze Ernten vernichten. An manchen Tagen gibt es einfach nichts zu essen. Armut beherrscht die Szene in politisch schweren Zeiten: Wen wundert es, dass Cao da manchmal am liebsten nicht mehr leben möchte.
Er erinnert sich: „Es gab eine – Gott sei dank nur kurze – Zeit, da wollte ich lieber sterben, als so weiterzuleben. Aber ich denke, Gott und die Gottesmutter haben mich getröstet. So ging dieser Gedanke auch wieder weg. Wir haben ja jeden Abend in der Familie den Rosenkranz gebetet.“ Heute findet Fr. Guerricus seine damalige Verzweiflung, die wohl mehr als verständlich erscheint, beschämend.
Sein tiefer Glaube, der ihm im Krieg geholfen hatte, führt ihn wieder ins Licht. Der Wunsch, ins Kloster zu gehen, der ihn schon vor dem Krieg bewegt hatte, meldet sich wieder. Aber zunächst heißt es, die Familie über die Runden zu bringen. Und so nimmt er zusätzlich eine recht schwere Arbeit in einer Tisch­lerei an, um etwas Geld dazu zu verdienen. Auf diese Weise vergehen schwere Jahre.
Freunde und Kollegen sind mittlerweile schon verheiratet. Immer wieder fragt Cao Gott, was er tun soll. Soll er heiraten? Dann möge Gott ihm doch bitte eine Frau aussuchen, damit er eine Familie gründen kann. Oder soll er ins Kloster gehen? Cao hält Ausschau nach einem Zeichen, was der Wille Gottes sei. Die Antwort lässt auf sich warten. Mittlerweile ist er schon 30. „Gut, ich warte noch drei Jahre, dann bin ich so alt, wie Christus geworden ist. Gottes Wille ist das Wichtigste für mich,“ betont er mit einem kleinen Lächeln.
Drei Jahre später besucht er eines Tages einen seiner Brüder, der ins Kloster eingetreten war. Als ihn dort der Prior sieht, fragt er Cao, warum er noch nicht bei ihnen eingetreten ist. Er solle sich einmal hier umsehen. „Das war,“ erklärte mir lächelnd der Zisterzienser mir gegenüber „für mich das Zeichen Gottes.“ Grünes Licht von oben für das Kloster also. 1997, mit 33, tritt Cao bei den Zisterziensern in die Abtei Phuoc Son in der Nähe von Saigon ein. Damit war aber anscheinend des Bruders Aufgabe dort beendet, denn dieser verlässt das Kloster bald darauf. Die Arbeit, die den angehenden Pater hier zunächst erwartet, kennt er von zu Hause: Um zu überleben, müssen auch die Mönche von ihrer Hände Arbeit leben.
Weltweit stammt übrigens mehr als die Hälfte des Zisterzienser-Nachwuchses aus Vietnam, wo es derzeit 200 Mönche allein in seiner Abtei gibt. (Die meisten Vietnamesen sind konfessionslos oder Buddhisten, nur neun Prozent katholisch.) Aufgrund der großen Armut gibt es kaum Priesterausbildungsplätze.
Deshalb ist Fr. Guerricus wirklich dankbar, als er acht Jahre nach seinem Eintritt erfährt, er dürfe in Heiligenkreuz studieren. Allerdings bedeutet dies: Jetzt muss er erst Deutsch lernen. Nun hatte er zwar gehört, dass Deutsch schwer zu lernen sei, „aber nicht, dass Latein, Hebräisch und Griechisch noch schwieriger sind,“ wie er lachend erzählt. „Aber, Gott sei Dank, hatten wir hier in Heiligenkreuz gute Professoren und liebe Kollegen, die uns Vietnamesen geholfen haben,“ ergänzt er dankbar.
Es ist nicht einfach, die neuen Sprachen zu lernen. „Man hat ihm nicht angemerkt, dass er angespannt wäre. Er war eigentlich immer fröhlich,“ erzählt P. Edmund, der gleichzeitig mit ihm vor acht Jahren nach Heiligenkreuz gekommen war.
Wie sein Alltag im Kloster ausgesehen hat? „Beten und studieren. Ich halte diese Zeit für die glücklichste in meinem Leben. Ich bin so dankbar, dass ich so viel studieren durfte,“ meint der Frater einfach. P. Karl Wallner, Rektor der päpstlichen Hochschule in Heiligenkreuz, äußert sich nach Fr. Guerricus’ Abreise sehr positiv über seinen vietnamesischen Studenten: „Er ist eine Perle. Fr. Guerricus hat täglich beim Chorgebet von 5.15 Uhr bis zum Rosenkranz am Abend bei uns alles mitgebetet. Er war bei den Mitbrüdern sehr beliebt, weil er immer freundlich und hilfsbereit war, nie irgendwelche Umstände gemacht und sich über nichts beklagt oder gemurrt hat.“
Und P. Edmund ergänzt: „Fr. Guerricus ist ein anspruchsloser, einfacher Mensch, überhaupt nicht kompliziert. Seine ganze Haltung und wie er das klösterliche Leben mitgelebt hat, war beeindruckend: Immer da, nie zu spät beim Gebet. Am Abend wurde Rosenkranz angeboten. Er hat immer mitgebetet. Ganz offensichtlich hat er eine besondere Liebe zum Rosenkranz und zur Gottesmutter. Das hat sich auch einmal bei einem geistigen Gespräch im Konvent gezeigt. Das Motto „Auf Christus schauen“ war von der Mariazeller Wallfahrt. Mich hat damals gewundert, dass er sich getraut hat, das Wort zu ergreifen. Meistens war er ja eher schüchtern. Doch da hat er mit großer Zuversicht und Autorität gesprochen und gemeint, es sei äußerst wichtig, ja notwendig, auf Christus zu schauen – aber auch auf Maria. Die Gottesmutter ist ihm wirklich ein zentrales Anliegen.“ Seine Diplomarbeit hat er nun mit „sehr gut“ abgeschlossen. „Ich war sehr glücklich, hierher kommen zu dürfen. Auch die anderen neun vietnamesischen Mönche, die hier studieren, sind sehr dankbar,“ betont er mehrmals.
Vier Sprachen hat er also in den acht Jahren, die er in Österreich gelebt und studiert hat, gelernt. Eine beachtliche Leistung! Wann er denn das letzte Mal seine Familie gesehen habe, frage ich ganz harmlos und erfahre: Vor drei Jahren habe sein Vater eines Tages daheim das Haus verlassen, um – wie jeden Sonntag– zu Fuß in die Kirche zu gehen. Zum großen Leidwesen aller, sei er von dort nie mehr zurückgekommen. Spurlos verschwunden. Jede Suche, auch über Radio und Fernsehen, blieb bis heute erfolglos. Niemand weiß, was mit ihm geschehen ist! Für die Mutter ein Schlag, den sie gesundheitlich nicht verkraftet hat. Vor zwei Jahren ist sie gestorben. Aus diesem traurigen Anlass war Fr. Guerricus beim Begräbnis zu Hause.
Nach dieser tragischen Schilderung bin ich erschüttert. Was für einen hohen Preis hat dieser Mann für seine Priesterausbildung bezahlt! Weder Vater, noch Mutter konnte er seit seinem Weggang aus Vietnam wiedersehen! Seinem tiefen Glauben an den barmherzigen Gott hat jedoch auch dieser Schicksalsschlag nichts anhaben können.
P. Edmund erinnert sich: „Man hat gesehen, dass er viel im Leben gelitten hat, nicht nur durch die schrecklichen Erfahrungen, die er im Krieg gemacht hat. Das Leid hat ihn jedoch nicht verbittert. Er hat sich dadurch eher noch mehr auf das Wesentliche im Glauben konzentriert.“ Ja, Glaube ist Hoffnung, ist Vertrauen (siehe „Glaube ist Licht“, S. 20) und hilft, Krisen zu überwinden.
Gerne erzählt Fr. Guerricus vom Glauben der Katholiken seines Landes: Nicht nur, dass es in Vietnam viele Berufungen gibt und die Klöster dort aufblühen. „90 Prozent der Katholiken gehen jeden Sonntag in die Kirche, obwohl wir viele Schwierigkeiten haben. In Vietnam hat es die katholische Kirche schwer. Religiöse Aktivitäten sind immer der Zustimmung der Behörden unterworfen. Doch in jeder Pfarre gibt es drei bis vier Heilige Messen jeden Sonntag. Vor allem die Jugend kommt in die Kirche und ist sehr interessiert und gläubig.“
Wie schön, denke ich. Muss es erst schwierig sein, den Glauben zu praktizieren, damit er tief wird und die Jugend durch das Beispiel der Erwachsenen fasziniert? Denn in Vietnam werden zwar Rede-, Presse und Religionsfreiheit garantiert, man kann sich darauf aber nicht wirklich verlassen. Wer nämlich die Regierung kritisiert, muss mit einer Haftstrafe rechnen, lese ich.
Welche Aufgaben ihn denn jetzt in seinem Kloster erwarten, frage ich ihn bei unserem Gespräch. In Vietnam wirken die Zisterzienser, so erklärt er mir, nicht in Pfarren, sie arbeiten und beten nur im Kloster: Dazu gehört die Arbeit auf den Reisfeldern, im Gemüsegarten oder am Bauernhof, beim Kautschuk- oder Kaffeeanbau. Alles wird selbst gemacht: Kochen, Waschen, Putzen gehören ebenso zu den Aufgaben der Mönche, wie Exerzitien und Katechismusunterricht im Kloster anzubieten.
Nur wenn der Erzbischof um Hilfe bittet, weil es nicht genug Priester gibt, verlassen die Mönche das Kloster. „Ich arbeite hier z.B, auch im Garten,“ hat er mir jetzt aus Vietnam geschrieben und hilft eben dort, wo gerade Hilfe gebraucht wird. Noch weiß er nicht genau, wann seine Priesterweihe sein wird. Danach wird er jedenfalls die jüngeren Mitbrüder unterrichten und sich bemühen, missionarisch zu wirken. Er wird ein Priester sein, dem wohl niemand vorwerfen kann, er wisse nichts vom wirklichen Leben „draußen“ – wobei vieles von seinem Leben, aus verständlichen Gründen, wohl ungesagt geblieben ist!
„Wie Gott will, bin ich bereit zu dienen: Mein Leben ist für Gott und für die Menschen, in Vietnam oder hier in Österreich,“ hat Fr. Guerricus beim Interview erklärt und sich zunächst einmal auf zu Hause gefreut. Lächelnd ließ er aber durchblicken, dass hier im Winter die Kälte für ihn zwar schon schwer auszuhalten sei und er auch die vietnamesische Kultur vermissen würde, dennoch käme er – sollte sein Abt nichts dagegen haben – schon gerne der Menschen wegen nach Österreich zurück, um hier zu arbeiten und zu helfen. „Aber ich muss gehorsam sein. Auf jeden Fall aber werde ich immer für die Katholiken in Österreich beten und für alle, die so nett hier zu mir waren,“ ergänzt er mit seinem schüchternen, lieben Lächeln. Und so hat er in seiner Dankrede in Heiligenkreuz auch betont, dass die Zeit hier „die schönste Zeit meines Lebens war“. Sein Mail aus Vietnam beschließt er mit den Worten: „Vor allem bemühe ich mich ein guter Mönch zu werden.“
Darf Ich Sie, liebe Leser, um Ihr Gebet für die Mönche und Priester Vietnams bitten?

An Pater Guerricus, der sicher ein engagierter Priester und Missionar sein wird – in seiner Heimat oder vielleicht bei uns – erkennt man, wie wichtig die Möglichkeit der Ausbildung auch für ausländische Priesterstudenten in der päpstlichen Universität in Heiligenkreuz ist. Aus insgesamt 28 Ländern kommen derzeit die Studenten um hier zu studieren. Viele können sich ihr Studium aber nicht selbst finanzieren. Daher ist die Hochschule auf großzügige „Patenschaftsspenden“ angewiesen. Weil längst schon großer Platzmangel in der Hochschule herrscht – derzeit studieren dort ……Studenten und es drängen schon viele nach – wird sie nun mit Hilfe von Spenden ausgebaut. Wer also Studenten durch Patenschaften unterstützen oder am Großprojekt der Universität mitbauen will, kann dies  unter:
http://www.hochschule-heiligenkreuz.at/fileadmin/user_upload/TEXTE/Patenschaftsfolder_Nr.1-Hochschule_Heiligenkreuz_2013.pdf


Glücklich, für Christus zu leiden

Ich gehöre zu der ersten Generation der Christen in der Sowjetunion. Unsere Bekehrung geschah vollkommen unerklärbar, durch die reine Gnade.
Wir waren in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der sterilen Wüste geboren. Alles war unmöglich und verboten: Eine bestimmte Literatur durfte man nicht lesen, nicht ins Ausland reisen und keine eigene Meinung haben.
Aber in den 60- und 70-er Jahren hat die sowjetische Jugend eine starke Sehsucht nach den anderen, wahren Werten gespürt. Der Nihilismus, die Verzweiflung waren absolut, so absolut, dass man keine Angst mehr vor den Starken dieser Welt gehabt hat. Unser einziger Wunsch war, frei zu sein. Vor allem innerlich geistig frei zu sein.
Wir waren bereit, für diese Freiheit alles zu opfern, ins Gefängnis zu gehen, das Leben zu verlieren. Gott hat uns zuerst geliebt. Fast alle kamen zum Christentum in einem reifen Alter. Die Einen durch die russische Literatur (Tolstoj, Dostojevskij, Lesskov, Gogol …), die Anderen durch die westliche Existenzphilosophie – Kierkegaard, sogar Sartre (!!) –, die Dritten durch Jogapraktiken.
In die wenigen Kirchen, die noch nicht zerstört waren, kam die russische Intelligenzija, die Akademiker, Maler, Dichter, Wissenschaftler.
Die freiesten Menschen in der Welt haben den Gehorsam (Gott gegenüber) gewählt, um noch freier zu sein. Diese neuen Christen haben aktiv in der Öffentlichkeit gehandelt. Deswegen wurden sie verhaftet, in die Gefängnisse und psychiatrischen Kliniken geworfen. Aber man hatte Märtyrer als Vorbilder gehabt. Die Verfolgten waren glücklich, für Christus zu leiden.
Es entstanden  christlichen Gruppen für die Menschenrechte, die christlichen Untergrundseminare und die erste christliche Frauenbewegung. Man hat versucht, in der Mitte der sowjetischen Hölle eine neue Realität aufzubauen, das Gottesreich auf dieser Erde – aber diesmal mit Gottes Hilfe.
Tatjana Goritschewa

Aus einem Brief (vom 27.12.10) der russisch-orthodoxen Dissidentin, die  1980 aus der Sowjetunion ausgewiesen worden ist.

 

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