Der Friede wird nicht durch militärische Kraftakte hergestellt, nicht bei Konferenzen ausgehandelt. Der wahre Friede wächst in den Herzen der Menschen, die sich für das Wirken Gottes öffnen.
Vor einigen Tagen tauchte ein E-mail in meinem Computer auf mit einem Interview von Jane Clayson, einer US-Journalistin. Darin fragt sie Anne Graham, die Tochter des bekannten evangelischen Predigers Billy Graham: “Wie konnte Gott die Katastrophe (des 11. September) zulassen?" Anne Grahams Antwort hat Tiefe und Treffsicherheit:
“Ich glaube, daß Gott zutiefst traurig ist über diese Katastrophe, so wie auch wir es sind. Nur haben wir seit Jahren zu Gott gesagt:,Du hast in unseren Schulen nichts verloren, Du hast in Öffentlichkeit und Politik nichts verloren, Du hast in unseren Leben nichts verloren.' Der bescheidene Gentleman, der Gott ist, hat sich, so glaube ich, in aller Stille zurückgezogen. Denn wie könnten wir uns erwarten, daß Er uns Seinen Segen und Seinen Schutz gibt, wenn wir zu Ihm sagen: ,Laß uns in Ruhe'!"
Jesus schickt nicht Blitz und Hagel über Jerusalem, das ihn ablehnt, sondern Er weint. Nicht ohne uns Seine tiefe Sehnsucht zu zeigen: ,,Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt! Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen" (Lk 19,42). Nicht Reiter, noch schnelle Wagen, keine noch so starke Armee (Ps 33), auch keine Geschoße oder Raketen bringen Frieden. Im Gegenteil, so lange wir tief in unserem Inneren zur Gewalt Zuflucht nehmen, ist auch vor unseren Augen verborgen, was, oder besser gesagt: wer uns den wahren Frieden bringt.
Wie sehr wünscht sich Jesus, daß wir erkennen, daß Er unser Friede ist, Er, der bei uns ist alle Tage bis ans Ende der Welt (Mt 28,20), Er, der sich finden läßt von denen, die Ihn aus ganzem Herzen suchen.
Am 11. September ist eine Kluft sichtbar geworden, die schon lange da war zwischen den Industrienationen mit ihren “christlichen" Werten und dem, viel größeren, armen Teil der Welt. Wie ein Schatten steht aber hinter dieser Kluft der Ungeist der Spaltung unter den christlichen Kirchen und, tiefer noch, der Unterschied zwischen der Heiligkeit der Lehre Christi und der zunehmenden Unheiligkeit des Lebensstils des Westens. Diese Unheiligkeit ist kein frei schwebender Mißstand, keine sündige Struktur, sondern sie legt die tiefste Schichte der Spaltung bloß, die Spaltung des einzelnen in sich selbst: unsere Sündigkeit.
Klar hat Mutter Teresa gesehen, daß zwischen diesen drei Spaltungen eine enge Beziehung besteht, wenn sie sagt: “Die Abtreibung ist heute die größte Bedrohung für den Weltfrieden. Denn," so erklärt sie den Zusammenhang, “wer wird uns daran hindern uns gegenseitig mit Maschinengewehren zu durchlöchern, wenn es einer Mutter erlaubt ist, ihr eigenes Kind in ihrem Schoß zu töten? Dabei tötet sie gleich zwei: das Leben ihres eigenen Kindes und ihr eigenes Gewissen."
Aber dieses Drama spielte sich “weit weg" von unserem täglichen Leben in Kliniken und in der stillen Verzweiflung unzähliger Frauen ab. Ebenso “weit weg" wie die Krisenherde und Massenvernichtung in vielen Teilen der Welt. Unseren Wohlstands-Frieden berührte weder das eine noch das andere. Dann kam der 11. September und mit ihm eine neue Seite unseres Jahrhunderts: die Globalisierung der Gefahr.
Kardinal François-Xavier Nguyên Van Thuân, der 13 Jahre in einem vietnamesischen Konzentrationslager zugebracht hat und heute Leiter des Päpstlichen Rates für Gerechtigkeit und Frieden ist, meint: “In der heutigen Welt kann man sich nicht mehr verstecken."
Es gibt heute kein Verstecken, keine Insel der Seligen, auf der man vor den Konflikten unserer Zeit in Sicherheit wäre. Plötzlich schlägt die Welle des Unfriedens der Welt bis in unsere Wohnzimmer: Krisen ganzer Wirtschaftszweige, Angst um die Zukunft, Arbeitslosigkeit dämpfen den scheinbar unbegrenzten Höhenflug des Produktionszeitalters.
Hat Gott wirklich Seine schützende Hand über uns zurückgezogen, uns Seinen Segen versagt? Oder erschüttert Er nur ein wenig unseren zu hoch gewachsenen Turm der Selbstsicherheit - immer, wie es Seine Art ist, um uns zu dem zu führen,was uns Seinen Frieden bringt? Durch die Propheten unserer Tage lehrt Er uns den Weg zum Frieden. Mutter Teresa war so eine prophetische Stimme.
Bei ihrer ersten Begegung mit Enva Hoxha, der Witwe des langjährigen Diktators von Albanien, dem ersten Staat, der sich “vollständig von Gott befreit hatte", war Mutter Teresa umgeben von einflußreichen Persönlichkeiten des albanischen öffentlichen Lebens. Nicht wissend, wie sie mit dieser kleinen freundlich aussehenden Ordensfrau und Friedensnobelpreisträgerin ins Gespräch kommen konnten, versuchte der eine oder andere, ihr oder der sie begleitenden Schwester eine Business-Karte zuzustecken. Prompt meinte Mutter Teresa: “Schwester, auch wir müssen diesen Herren unsere Business-Karte geben." Sie begann kleine Visitkarten zu verteilen, die ein Hindu Geschäftsmann einmal für sie hatte drucken lassen. Darauf stand:
Die Frucht der Stille ist das Gebet, die Frucht des Gebetes ist der Glaube, die Frucht des Glaubens ist die Liebe, die Frucht der Liebe ist der Dienst am Nächsten, die Frucht des Dienstes ist der FRIEDE.
Der kleine “pencil in God's hand" (Bleistift in Gottes Hand), wie sich Mutter Teresa selbst nannte, wußte, daß sich der Friede wie ein großes Gebäude aus unzählig vielen kleinen Ziegeln und Elementen aufbaut und daß sein innerster Kern der Friede des Herzens ist, in dem Gott wohnt.
“Gott spricht in der Stille unseres Herzens", pflegte sie zu sagen, “und wir hören zu." Dieses Hören auf Gott “erbaut" unseren Glauben, der uns als Weg zum Frieden das eine neue Gebot aufträgt: einander so zu lieben wie Jesus uns geliebt hat.
Wie hat Er uns geliebt? Er hat sein Leben nicht geschont und selbst seinen Mördern vom Kreuz herab verziehen: “Vater, vergib ihnen ..." Unser Friedensdienst am Nächsten beginnt und verwirklicht sich damit, daß wir selbst versöhnte Menschen werden, Menschen des Friedens, die sich mit ihrer Vergangenheit, den manchmal schmerzhaften Erfahrungen der Vergangenheit, sowie mit allen in das Geschehen eingebundenen Personen vollkommen versöhnen wollen (siehe S. 24-25).
Kein leichtes Unterfangen, doch nur so betreten wir den wirklichen Weg zum Frieden: ein Weg, der keinen unmittelbar sichtbaren Erfolg verspricht, ein Weg der Mut, Entschiedenheit und Überwindung verlangt, der noch dazu nicht allgemein bekannt und - besonders von den Volkserziehern (Medien und Politik) - ignoriert wird. Er wurde aber - und das ist der Grund, warum er sicher zum Ziel führt - von Christus selbst beschritten. Auf ihm wird jeder, der dies will, vom Herrn geführt.
Der erster Schritt: Den Unfrieden in uns erkennen
Es ist interessant was Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, zum Thema Versöhnung und Frieden zu sagen hat. In einem seiner Vorträge meinte er, seine Forschungen hätten ihn zur Erkenntnis geführt, daß wir alle “... in unserem Unterbewußtsein auch heute noch eine Rotte von Mördern sind. Wir beseitigen in unseren stillen Gedanken alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigen oder geschädigt haben, täglich und stündlich. Das ,Hol ihn der Teufel', das sich uns [...] so häufig über unsere Lippen drängt und das eigentlich bedeutet: ,Hol ihn der Tod', ist für unser Unterbewußtsein kraftvoller Ernst. Ja, unser Unterbewußtsein mordet selbst für Kleinigkeiten ..."
Die Reaktion seiner Zuhörer vorwegnehmend, meinte er weiter: “Ich kann Ihnen das alles ruhig sagen, weil ich weiß, daß Sie es ohnehin nicht glauben. Sie glauben mehr ihrem Bewußtsein, das solche Möglichkeiten als Verleumdung zurückweist." Ob Freud gewußt hat, wie nahe er damit den Worten Jesu war, der sagte: “Aus der Tiefe des Herzens kommen Ehebruch, Lüge, Mord, ...."?
Es gehört natürlich einiger Mut dazu, sich und anderen einzugestehen, daß man eigentlich nicht ganz Herr im eigenen Hause ist und daß in uns Kräfte am Werk sind, die stärker sind als unser guter Wille. Wer will nicht wenigstens Herr im eigenen Haus sein?
Zweiter Schritt: Glaube an die heilende Kraft Christi
Auch wenn das Drama jedes einzelnen Falles nicht zu überhören ist, so kann die Erfahrung, die heute mehr und mehr Menschen - zumeist Jugendliche - machen, uns einen wichtigen Hinweis auf den Weg zum Frieden geben. Wenn sie Handlungen begehen, die sie sich kaum selbst eingestehen können oder an sich Abhängigkeiten entdecken, die sie zugrunde richten, so finden sie doch oft gerade durch diese Ohnmacht zu Gott, für den kein Ding unmöglich ist (Lk 1), und der den Abgrund der Herzen erforscht.
Die Cenacolo Gemeinschaft der Drogenabhängigen von Schwester Elvira, die weltweit an die 30 Niederlassungen hat, ist ein Zeugnis für den Frieden, den Christus schenkt. “Christo-Therapie" nennt Sr. Elvira die heilende Kraft Christi in ihren Häusern. Hunderte von Jugendlichen haben durch sie den Weg des Friedens mit sich, ihren Familien und der Gesellschaft gefunden.
Gott drängt sich uns nicht gegen unseren Willen auf. So steht am Anfang jeder Umkehr der Offenbarungseid meines eigenen Unvermögens und die Hoffnung auf die heilende Kraft des Gebetes, der Sakramente und der liebenden Gemeinschaft. Aus der Hoffnung wird die Erfahrung der Kraft des Glaubens und der Jubel der Rettung.
Dritter Schritt: Der Weg des Friedens in der Liturgie
Nicht nur in die Erfahrung der Drogenabhängigkeit, sondern in den Abgrund jeder menschlichen Not tritt Christus ein, wenn wir Ihn einladen und Ihm vertrauen.
In den Sakramenten der Kirche erforscht der Geist Gottes die Tiefen des menschlichen Herzens und berührt sie heilend durch den Hauch Seines Atems. Im Sakrament der Versöhnung vergibt Gott uns die Schuld, in der Eucharistie hilft Er uns die erlittenen Verletzungen als “wohlgefälliges Opfer" mit dem Opfer Christi zu vereinen und damit in unserem Leben zu “tun" was wir im “Geheimnis unseres Glaubens" feiern.
Die Heilige Messe ist wirklich ein Hochofen des Verzeihens, wo wir nicht nur die kleinen Verzeihens-Tode des eigenen Lebens mit dem großen Versöhnungsopfer unseres Herrn auf Golgotha vereinen und daraus neues Leben, Freude und tiefen Frieden des Herzens empfangen, sondern sie ist damit der wichtigste Baustein des Friedens. Sehr schön zeigt sich dies in der “Litanei des Friedens" vor der Kommunion. Ehe der Gläubige seine durchdringendste Vereinigung mit dem Haupt der Kirche, Christus, erfährt, erbittet er Frieden in allen Bereichen des menschlichen Seins:
* schenk Frieden in unseren Tagen - Friede zwischen Nationen und Völkern...
* Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch ... - der Friede des Auferstandenen, Friede in unserem Herzen
* Schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden - Friede in der Kirche, Friede unter Christen
* der Friede des Herrn sei allezeit mit euch - Friede in der anwesenden Gemeinde
* gebt einander ein Zeichen des Friedens - Friede zwischen den Gliedern der anwesenden Kirche
Ein versöhnter Mensch, der in der Stille seines Herzens die Kraft des Friedens und des Verzeihens erfährt, wird selbst gewandelt. Dann ist er einfach, ohne viele Worte für die Menschen, denen er begegnet, ein “Friedensstifter" (Mt 5,9) in der heutigen Welt.