Alle Wege scheinen nach Großpriel zu führen. Denn mein Mann und ich, wir sind jedenfalls auf einem ganz anderen als dem von Elisabeth Wieder beschriebenen Weg in dem kleinen Ort in der Nähe von Melk gelandet. Nun stehen wir vor einem hübschen, großzügig angelegten Haus, vor dem uns meine Gesprächspartnerin erwartet. Auch ihr Sohn Wolfgang kommt mir mit erwartungsvollem, freundlichem Lächeln in seinem Elektrorollstuhl entgegen.
Wie alle, die an der Glasknochenkrankheit leiden, ist er stark kleinwüchsig geblieben. Seine Beine liegen wie im Yogasitz gebogen vor ihm. Später wird er mir erklären, daß man die Krankheit an den Augen erkennen könne: Das Weiß der Pupille ist außen grau. Und tatsächlich kann ich das leicht erkennen.
In der großen gemütlichen Küche bei einer Tasse Tee beginnen wir nun das Interview. Elisabeth Wieder erzählt von ihrer belastenden Jugend: Als sie neun Jahre alt ist, stirbt ihre Mutter nach einem schweren Krebsleiden. Das Mädchen ist verzweifelt. „Daß sie nie wiedergekommen wird, war unerträglich schlimm,“ erinnert sie sich. Weil sie die älteste der drei Halbwaisen ist, übernimmt sie schon bald Mutterstelle an den sieben- und dreijährigen Buben. „Ich war halt die Große. Hab’ mich auch groß gefühlt und daher Verantwortung für die Geschwister übernommen,“ erzählt sie sichtlich bewegt. Der Vater ist sehr streng und dominant. Kein Vater, an den man sich ankuscheln kann, wenn die Verzweiflung groß ist. Daher läuft sie immer zum Grab der Mutter und ladet dort ihren ganzen Schmerz ab.
Drei Jahre nach dem Tod der Mutter heiratet der Vater wieder. Doch das Mädchen kann die Stiefmutter nicht annehmen. „Das ist jetzt eure Mutter,“ heißt es. „Aber in mir hat sich alles aufgebäumt, denn für mich war klar: Sie wird nie meine Mutter, kann sie nicht ersetzen,“ erinnert sich Elisabeth schmerzlich. Ihr einziger Trost bleibt das Grab der Mutter. Mit Gott der ihr, wie sie meint, die Mutter genommen hat, hadert sie. Weil aber der Friedhof neben der Kirche liegt, geht sie regelmäßig auf einen Sprung hinein. Und so nimmt die Muttergottes mit den Jahren unbewußt immer mehr die Stelle der Mutter ein – und so reißt der Faden zum Himmel nie ganz ab.
Mit 20 will sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Sie verläßt den väterlichen Bauernhof –und heiratet sehr bald. Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt sie einen Bauernhof. Nach der Geburt von zwei gesunden Mädchen bekommt sie 1972 – sie ist gerade erst 24 – ihr drittes Kind: einen Buben. Er ist nur 15 Monate jünger als seine Schwester Gabriele. Vier Wochen nach der Geburt eröffnen ihr die Ärzte: Das Baby leidet an einer schweren, sehr seltenen Krankheit (Wahrscheinlichkeit: 1:1 Million), der Glasknochenkrankheit. Sie ist durch eine – vom Gehirn gesteuerte – unvollkommene Knochenbildung gekennzeichnet: Die Knochen sind dünn, erscheinen im Röntgenbild wie aus Glas, brechen auch so leicht und wachsen nicht normal.
Die Mutter fällt in ein schwarzes Loch. „Ich habe sehr gekämpft, konnte das nicht verstehen. Ich habe auch befürchtet, daß Wolfgang geistig behindert sein würde, da die Krankheit ja vom Gehirn ausgeht. Da habe ich wieder sehr mit Gott gehadert: ,Du hast mir meine Mutter genommen und jetzt ein schwerkrankes Kind gegeben’, war mein Vorwurf.“
Anfangs können die Eltern kaum glauben, daß dieses, zwar sehr zerbrechlich aussehende, Baby sich nicht normal entwickeln soll. „Ich dachte: Das Gewicht wird er schon aufholen und dann ist alles in Ordnung. Allerdings hat man es seinen Bewegungen angesehen, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ab dem zweiten Lebensjahr, als er sich mehr zu bewegen begann, sind massiv die Knochenbrüche aufgetreten. Da war er sehr sehr viel im Spital. Nach jedem Bruch war ich mit ihm dort.“
Kaum zwei Wochen vergehen ohne Bruch: Strampeln, schnellere Bewegungen mit den Händen, das festere Halten eines Balles oder gar das Spielen mit den Geschwistern verursachen Brüche. Normalerweise gipst man sie ein. Hier war das nicht möglich. Der schwere Gips würde nur neuerlich Brüche verursachen. Also schient man die gebrochenen Glieder nur mit Bandagen und stellt das Kind mittels Infusionen für kurze Zeit ruhig. Schmerzmittel? Verträgt er kaum. Unsagbar viele Nächte hält die Mutter den vor Schmerzen wimmernden Buben in ihren Armen. „Sein kleiner Körper hat vor Schmerzen in meinen Händen gezuckt,“ erinnert sich die Mutter an die kaum vorstellbare endlose Leidenszeit. Nicht nachvollziehbar was Mutter und Kind auszuhalten hatten.
So vergehen die ersten fünf Jahre. Elisabeth muß ständig minutiös auf ihren Sohn aufpassen um neue Brüche möglichst zu vermeiden. Da die beiden Schwestern nicht sehr viel älter sind, bilden sie trotz aller Liebe für den Bruder eine Gefahr für ihn. Daher darf er möglichst nicht mit ihnen zusammenkommen.
Wie hält man das alles als Mutter durch? Eine Freundin hat diese schwer geplagte, noch sehr junge, dreifache Mutter schon damals sehr für ihr Durchhaltevermögen bewundert. Ein leidensvoller Weg, auf dem sie sehr viel alleine war, auf vieles verzichten mußte und den sie doch mit viel Geduld und Liebe durchgestanden hat. Heute ist Elisabeth Wieder überzeugt daß sie dieses Leben kaum verkraftet hätte, wenn sie nicht durch den frühen Tod der Mutter gelernt hätte zu verzichten.
Nach fünf Jahren unglaublich vieler Spitalsaufenthalte meinen die Ärzte, die Brüche könne man zu Hause selbst schienen. Im Spital sei auch nicht mehr Hilfe möglich und es sei zu befürchten, daß der Bub durch zu wenig Familienkontakt zusätzlich seelischen Schaden erleiden würde. „Da ist nochmals die Welt für mich zusammengebrochen, ich hatte einfach immer wieder gehofft, daß es irgendeine Hilfe für ihn geben könnte.“ Offensichtlich sind aber auch die Ärzte im Spital mit seiner Krankheit überfordert. Auch in den Wiener Kinderspitälern, die sie aufsuchen, macht man ihnen keine Hoffnung. Eine eventuelle aufwendige Operation würde den Buben, der weder Narkose, ja kaum Schmerzmittel verträgt, zu sehr belasten.
Also werden die Brüche von nun an zu Hause versorgt. Die Familie richtet sich darauf ein: Mit dem Kinderbett wird der Bub überallhin, wo gerade Arbeiten anfallen – die Mutter muß ja auch in der Wirtschaft mithelfen, die Tiere füttern und Ernte einbringen –, sehr vorsichtig mitgetragen. Die Mädchen lieben den kleinen Bruder sehr, beziehen ihn bei allem mit ein. So ist er überall willkommen. Mutter und Schwestern vermitteln ihm das Gefühl, angenommen zu sein. Der Vater ist politisch sehr engagiert – unter anderem als Vizebürgermeister von Melk – und viel unterwegs.
Wieviele Brüche er in seinem Leben schon gehabt hat, könne wohl niemand sagen, vermute ich. Wolfgang bestätigt das sofort: „Ja, dazu sind es zu viele,“ meint er mit seiner tiefen Stimme. Gott sei Dank hat seine Anfälligkeit auf Brüche nach der Pubertät abgenommen.
Wolfgangs erste Erinnerungen jedenfalls beziehen sich auf die liebevolle Betreuung durch Mutter und Schwestern. An die ersten Jahre, die vielen Spitalsaufenthalte kann er sich gar nicht wirklich erinnern. Zeigt das nicht eine sehr positive Lebenseinstellung? Und dabei muß man bedenken: Da er Schmerzmittel nicht verträgt, muß er ja ohne auskommen. Und so hat er Jahre hindurch Tag und Nacht Schmerzen gehabt.. „Das war wirklich schlimm für mich,“ stellt er nüchtern fest, während seine Mutter ergänzt: „Nun hat er eine hohe Schmerztoleranz erreicht.“
Ob er je stehen konnte? Mit etwas Sehnsucht in der Stimme erinnert er sich: „Meine Großmutter hat mich einmal so gehalten, daß ich mit den Zehenspitzen den Boden berühren konnte. Ein wunderbares Gefühl! Mein Traum war ja, einmal gehen zu können.“ Allerdings konnte er sich nicht einmal alleine aufsetzen oder Gleichgewicht halten. Und so fällt er auch einmal kopfüber in einen Weidling beim Versuch diesen heranzuziehen, während seine Mutter daneben abwäscht. Kein großes Malheur normalerweise. In seinem Fall bedeutet das: Brüche an beiden Händen und Füßen – Schmerzen und zwei Wochen lang möglichst unbeweglich im Bett zu liegen.
Kann man sich vorstellen wie oft die Mutter den Buben getragen, gehoben, verbunden hat oder an seinem Bett gesessen ist? Und wie oft mußte Wolfgang geduldig Schmerzen ertragen und auf Heilung von Brüchen warten?
„Sind Sie Gott böse, daß er Ihnen diese schwere Bürde aufgeladen hat?“, frage ich Wolfgang, der die ganze Zeit entspannt neben mir sitzt. „Nein!“ Er überlegt nicht lange und lächelt: „Nein, böse bin ich Ihm nicht. Sicher nicht“. Und noch einmal bekräftigt er: „Bin ihm nicht böse! Er weiß schon, was Er tut. Ich weiß es nicht.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Aber ich werde Ihn gleich fragen, wenn ich eines Tages bei Ihm sein werde. Ich hoffe, Er wird es mir dann sagen.“
Seine Mutter hingegen war lange Zeit nicht gut auf Gott zu sprechen „Schon als Kind ist es mir sehr schlecht gegangen. Da bin ich oft seelisch verletzt worden.“ Wenn sie über diese Zeit spricht, sieht man ihr heute noch an, welche Last das gewesen sein muß. Und doch, meint sie, sei der Faden nie ganz abgerissen. „Ich denke, meine Mutter hat dafür gesorgt, daß ich mich nie ganz von Gott entfernt habe.“
Bei der allgemeinen Überforderung der Bäuerin ist es kein Wunder, daß sich Depressionen einstellen. Die Ärzte erkennen nicht, daß diese Mutter einfach am Ende ihrer Kräfte ist. Sie wird daher falsch – und somit auch erfolglos – behandelt. Eine Änderung wird erst durch ein ganz überraschendes Ereignis eingeleitet: Die Geburt eines gesunden Mädchen.
Wolfgang ist gerade zehn. Ganz ungeplant ist dieses Kind, zu dem Elisabeth Wieder von sich aus nicht den Mut aufgebracht hätte. Doch nun ist das Baby da. Und es ist nicht, wie manche meinen könnten, eine zusätzliche Belastung für die schon stark beanspruchte Mutter von nunmehr vier Kindern – im Gegenteil: „Ein großes Geschenk des Herrgott!“
Die kleine Maria wächst zunächst mit Wolfgang auf: Sie schläft bei ihm im Bett, er auf der einen Seite, das Baby auf der anderen. Er füttert sie, hält das Flascherl, wacht über sie. (Später übernimmt er Babysitteraufgaben auch bei seinen kleinen Nichten und Neffen.)
Elisabeth erinnert sich lebhaft an die Zeit der großen Wende in ihrem Leben: „Von da an hab ich mich auf die Suche nach Gott gemacht. Jetzt fang ich neu an, stand für mich fest.“ Bei den ersten Kirchenbesuchen – die Mutter möchte lieber hinten stehen bleiben – drängt Wolfgang darauf, mit seinem Rollwagen ganz vorne zu sein. Er sehe ja sonst nichts. Wolfgang lacht, als sich beide daran erinnern, wie er seine Mutter mitten ins Geschehen gedrängt hat. Elisabeth erzählt weiter: „Immer öfter habe ich die Kinder zusammengepackt und bin zu Gebetsabenden gefahren, auf Wallfahrten, zu Exerzitien.“ Jetzt sucht sie nach Menschen, die mit ihr beten und so kommt sie zu einer Melker Gebetsrunde, bei der sie und Wolfgang heute noch sind.
Auch zu Hause gibt es schon bald Gebetsabende. Elisabeth erinnert sich an die neuen Erfahrungen, die Mutter und Sohn nun machen: „Für den Buben war das auch sehr schön. Er lag in seinem Bett und hat das gemeinsame Beten sehr genossen. Oft ist er dann dabei eingeschlafen. ,Mama, du weißt gar nicht, wie gut das für mich ist,’ hat er immer gesagt.“ Und Wolfgang bestätigt: „Ja, das habe ich gebraucht.“ Bei ihrer Suche nach Gott wird Elisabeth sehr von P. Helmut, dem mittlerweile verstorbenen Pfarrer von Maria Taferl, unterstützt und geführt.
1992 stirbt Elisabeths Vater. Die Stiefmutter bleibt allein zurück und erkrankt bald an Krebs. „Nicht schon wieder Krebs,“ ist die Stieftochter entsetzt. Da sagt ihr eine innere Stimme: „Das ist jetzt deine Chance. Begleite sie in ihrer Krankheit.“ „Und so war es auch: Sieben Jahre habe ich sie begleitet. Es war dann für mich so, als ob ich das für meine eigene Mutter tun würde,“ erinnert sich Elisabeth bewegt. Sehr oft sei sie bei ihr im Spital gewesen, habe eine neue Beziehung zu ihr bekommen und konnte ihr eine richtige Stütze sein.
„Erzähl doch auch etwas,“ ermuntert die Mutter Wolfgang, der der Aufforderung sofort gerne nachkommt: „Ich denke gern an unsere Fahrten nach Mariazell: Diese Gemeinschaft von Familien mit Behinderten war für mich immer sehr schön. Da haben wir Ausflüge gemacht oder waren am Abend Pizza essen oder sind etwas trinken gegangen.“ Leider hat die Caritas seit 2002 diese Veranstaltung aufgegeben, bedauert Wolfgang. Ob man sie aktivieren könnte?!
Mit den Maltesern sind Wieders 1994 in Lourdes und 1995 in Rom. Da hat er ein unvergeßliches Erlebnis: Bei der Privataudienz der Pilgergruppen geht Papst Johannes Paul II auf Wolfgang in seinem Rollstuhl zu, spricht ihn an und segnet ihn. Wolfgang verschlägt es die Rede. Er kann nur auf sein Namensschild deuten. Die Pilgerfahrt nach Assisi macht er sogar ganz alleine, ohne der Mutter, nur mit der Gruppe – kehrt allerdings nicht ohne Bruch zurück. Auch in Medjugorje waren Mutter und Sohn schon dreimal. „Alle haben mir da geholfen,“ erinnert sich Wolfgang dankbar. Zu viert tragen sie ihn samt Rollstuhl auf den Erscheinungsberg – ohne Unfall! „Wirklich ein Wunder,“ denkt wohl jeder, der den unglaublich steinigen Weg dorthin kennt.
„Für mich war das sehr schön, daß ich mit dem Wolfgang dorthin kommen konnte. Die Begegnung mit so vielen gläubigen Menschen war ein wunderbares Erlebnis,“ erzählt Elisabeth froh. Ihre Depressionen werden von Gott geheilt: „Immer wieder bin ich ein Stückerl weiter auf den Weg der Genesung gegangen, bis ich ganz frei war.“ Eine gläubige Familientherapeutin – sie begleitet die Familie lange Zeit hindurch – ist dabei eine große Hilfe.
Jetzt frage ich Wolfgang, wie es zur der sichtbaren Verletzung am Kopf gekommen sei. Gelassen berichtet er: „Das war bei einem Krampuskränzchen der Landjugend. Der Rollstuhl in dem ich geschoben wurde, ist an einer Kette hängengeblieben und ich bin kopfüber aufs Pflaster geflogen.“ Ergebnis: Schädelbruch, Gehirnblutung, zwei Operationen, wochenlanger Spitalsaufenthalt, tagelang künstlicher Tiefschlaf. Die Ärzte haben einen solchen Eingriff noch nie an einem Patienten mit Glasknochenkrankheit gemacht. Die Befürchtungen sind groß.
14 Jahre ist der Unfall her. Eine schlimme Erinnerung für die Mutter. Als die zweite Operation durch neuerliche Blutungen notwendig wird, bleibt eine Schwester im Spital statt der Mutter, deren Angst zu groß ist. In der Gebetsrunde wird für Wolfgang gebetet. Elisabeth Wieder erinnert sich, wie eine Frau in der Runde betet: „Herr, laß es so kommen, daß es gut für Wolfgang ist.“ Und so ist es dann auch. Nach der Operation ruft er zum großen Glück der Mutter gleich an: „Mama ich bin wieder da!“. Das Gebet war erhört worden: keine Kopfschmerzen oder sonstige Beschwerden. Die Ärzte staunen über den Lebensmut des Burschen der trotz Krankheit und schwerer Verletzung zuversichtlich und froh wirkt. „Der ist ein Phänomen, hat einer von mir gesagt,“ erinnert sich Wolfgang mit berechtigten Stolz.
Wie er denn mit seinen immer wiederkehrenden Schmerzen zurechtkomme, frage ich ihn . „ Man gewöhnt sich an viel.“ meint er: „ Ich sag immer: Das ist eine Kleinigkeit – aber nur weil der Herrgott mir halt viel Kraft gibt um damit leben zu können. Ich leg es Ihm halt immer wieder hin und sag: Bitte hilf mir, sonst schaff’ ich’s nicht. Und ich kann darauf vertrauen, daß Er mir hilft.“ Dann fügt er aber auch hinzu: „Es gab schon Zeiten, wo ich auch mit Ihm geschimpft hab, weil ich so behindert bin. Ich hätte ja gerne eine eigene Familie gegründet, hätte gerne Kinder gehabt.“
Die Mutter fügt hinzu: „Schon als kleines Kind, als ich noch sehr mit all dem gehadert habe, hat er am Abend oft gesagt: ,Lieber Gott, bitte hilf mir.’ Ich konnte das damals nicht sagen, konnte Gott nicht um Hilfe bitten. Der Bub konnte das aber. Für mich war Gott damals ein strafender, kein liebender Gott.“ Nun sehe sie das anders: Gott habe sie nie losgelassen. „Mich hat Er auch nie losgelassen,“ wirft Wolfgang ein.
Daher hat er wohl auch nie das Lachen verlernt, sich seine Heiterkeit bewahren können. Er hat sich nicht zurückgezogen, sich nicht in seinen Schmerz, seinen Enttäuschungen vergraben, bestätigt die Mutter. Ganz im Gegenteil. Er ist jemand der gerne auf andere zugeht, den Kontakt zu den Menschen sucht. Schmäh führen, lachen oder auch mit anderen auf ein Bier gehen, gehören zu ihm, sind Zeichen seiner Lebensfreude, die nicht zu übersehen ist. Gerne gibt er sie an andere weiter. Kein Wunder, daß er überall willkommen ist.
So auch bei der Landjugend. Dort war er 15 Jahre lang, eine schöne Zeit, an die er gern zurückdenkt. „Ich war auch Sprengelkassier, war immer hineingenommen in die Gruppe. Bei Tanzveranstaltungen haben die Burschen mich hinaufgetragen. Die waren ganz lieb. Da hat es nie etwas gegeben.“ Überhaupt habe er immer nur gute Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht, beteuert er: „Wenn ich in Melk in der Fußgängerzone unterwegs bin – seit bald 20 Jahren habe ich ja einen elektrischen Rollstuhl – dann grüßen mich die Leute, winken und rufen mir zu. Es kennen mich ja viele. Das ist das Schöne.“ Er erklärt: „Ich gehe allein in die Kirche, auf die Bank oder mache andere Wege. Das ist wichtig für mich.“ Außerdem singt er im Melker Kirchenchor mit und trägt schon seit 10 Jahren das Kirchenblatt aus. Ist das Wetter schlecht, helfen ihm die Nichten oder Neffen. In einem Brief an Sr. Maria Herndler – sie hat mich auf Wolfgang aufmerksam gemacht – schreibt der junge Mann: „Ich habe mit meinem Behindertsein und den vielen Schmerzen leben gelernt. Ich lebe aber sehr gerne!“
Ist das nicht ein ganz wichtige Botschaft für unsere Zeit?!
Die älteste Tochter Elisabeth hat 2002 mit ihrem Mann den Bauernhof übernommen. Damals haben die Eltern ein neues, rollstuhl- und behindertengerechtes Haus gleich in der Nähe gebaut. Daher sind die Schwestern, Nichten und Neffen für Wolfgang jederzeit als Ansprechpartner da. Sie und Wolfgang sind einander gegenseitig Hilfe und Stütze. Sie stellen sich nicht mehr Fragen nach dem Warum. „Wir haben damit leben gelernt und somit gewonnen,“ kennzeichnet Elisabeth ihre gemeinsame Entwicklung. Sie alle sind an und durch Wolfgangs Leiden gereift, offen und hellhörig für seelische Probleme und Leiden anderer Menschen – eine der Schwestern arbeitet als Kindergärtnerin, die andere mit blinden Menschen – geworden. Ich habe gehört, daß so mancher sich bei Wolfgang Rat holen kommt.
Bevor ich gehe, zeigt mir Wolfgang sein Zimmer und die Fotos des Hobbyfotografen, der er ist. Ganz begeistert bin ich von einem Sonnenuntergang, den er unbedingt vergrößern und einrahmen sollte. Ich zeige ihm meine Familienfotos. Wie herzlich er sich über die Fotos unserer Kinder und Enkel freut und sie super findet: „Sie können wirklich stolz sein,“ meint er fröhlich. Hätte er nicht schon längst mein Herz gewonnen, so wäre das spätestens jetzt geschehen.
Ein paar Stunden mit Elisabeth Wieder und ihrem Sohn sind überzeugender, wiegen mehr als so manches noch so gut gesprochene Wort der Verkündigung, denke ich. Und wer weiß schon, wie sehr ihr Zeugnis die Welt zum Guten verändert bzw. schon verändert hat? Ein befreundeter Priester hat in Bezug auf die beiden ein schönes Wort geprägt: „Glück ist anders als man es meistens definiert“