VISION 20002/2002
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Zuhören, um Gott zu gehören

Artikel drucken Über eine Fähigkeit, die Übung erfordert (Von Werner Pelinka)

Das Ohr ist im Mutterleib das erste entwickelte Sinnesorgan. Es nimmt nicht nur akustische Signale auf, vor allem setzt es das Ungeborene mit seiner Mutter in Beziehung. So ist Hören mehr als Aufnehmen von Information: Es ist der bevorzugte Weg, in Beziehung zu treten.

Die menschliche Tätigkeit des Zuhörens nur rein funktionell zu beschreiben, ist zu wenig. Über die physikalischen, physiologischen und wissenschaftlich exakt nachvollziehbaren psychologischen Vorgänge hinaus wird dabei der personale Wille erforderlich: das Ohr als Teil des Gehirns und als Tor zur Seele wird angesprochen.

Die Wahrnehmung des Zuhörens erfaßt den ganzen Menschen in seiner Gesamtheit aus Körper, Geist und Seele, während sich die Empfindung des Hörens lediglich auf der materiellen Ebene abspielt. “Wer Ohren hat zu hören, der höre" (Mk 4, 12), ist ein göttlicher Auftrag an den Menschen und somit zu seinem Wohle bestimmt: “Hört, und ihr werdet leben" (Jes 55,3).

Die tatsächliche Bedeutung dieses prophetischen Satzes wird schon in der pränatalen Phase des Menschen deutlich, in der das Ohr als erstes der Sinnesorgane bereits ab dem vierten Monat entwickelt ist und dazu bestimmt, “der Mutterstimme als erster Verbindung des Fötus zum Leben und zur Liebe" (A. Tomatis) zu lauschen. Diese Urbeziehung zur Mutter, welche die “Muttersprache" schenkt, wie auch die spätere Prägung durch den Vater, welcher das Kind zur sozial-kommunikativen Person formen soll, schaffen die individuellen Grundlagen für das Zuhören.

In unserer technisiert-zivilisatorischen Welt müssen wir zuviel hören, sodaß wir immer weniger zuhören können. Dem Überangebot an Lärm - dem “Mörder aller Gedanken" (A. Schopenhauer) - begegnen wir vielfach mit Weghören, und als Folge dieses Rückzugs in uns selbst klafft die Widersprüchlichkeit zwischen Überempfindlichkeit gegenüber unserer akustischen Umwelt (Hyperakusis, Hypersensibilität) und gleichzeitig dem Unvermögen, echt und anteilnehmend zu kommunizieren.

Die selten gewordene Fähigkeit des Zuhörenkönnens ist auch eine Folge der vom Zeitgeist geprägten Neigung zu Selbstüberschätzung, Mißtrauen und Stolz. “Ohren habt ihr und hört nicht" (Mk 8,18).

Die aus dem Gebot der Nächstenliebe erwachsende Tugend der Demut - nach Ernst Ulrich von Weizsäcker insbesondere heute die wichtigste der christlichen Tugenden - ist hingegen die unerläßliche Grundhaltung für das Zuhören. Der Mut zum Dienen (=Demut), das Anerkennen der eigenen Begrenztheit und das altruistische Wohlwollen sind die Voraussetzung dafür, daß die Begegnung von Menschen gelingt, und zwar in dem Sinne von Martin Bubers Postulat: “Das Ich wird am Du".

Durch den Respekt vor dem Nächsten, durch das Einfach-Da-Sein ohne Wunsch belehren zu wollen, durch das Schenken von Zeit, Aufmerksamkeit und Mitgefühl erfährt der so Zuhörende schließlich selbst den Fluß der innerseelischen Strömungen, ja dieses sprichwörtlich “auf einer Wellenlänge schwingende" Gemeinsame als wohltuende Bereicherung.

Wie das Gebot der Nächstenliebe dem der Gottesliebe untergeordnet ist - “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft. Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Mk 12, 30-31) -, so bedarf das zwischenmenschliche Zuhören als Gnadengeschenk des Gebetes, des Hinhörens auf Gott. “Ein Ohr, das auf die Weisheit hört, macht Freude" (Sir 3, 29).

In der demütigen Haltung der Immaculata, als sie ihr “fiat" sprach, wird zweierlei deutlich:

* Auf das Zuhören folgt das Sprechen.

* In weiterer Folge gebiert sie das Leben.

Unser Heil ist somit eine Folge des Zuhörens, wenngleich der Weg von der alltäglichen Übung dieser Fähigkeit bis hin zum erfüllenden Ziel ein weiter ist.

Wir sollen uns jedoch mit zuhörenden Ohren durchtönen lassen (“per-sonare"), um nach dieser Pilgerschaft “gehorsam" - inspiriert und geleitet von Gottes Wort - als die Person anzukommen, als die wir von unserem Schöpfer gerufen sind: “Effata! Öffne dich!" (vgl. Mk 7, 31-37).

Der Autor ist Komponist und Leiter des Instituts für Horch- und Sprachpädagogik (Tomatis - Institut): Gusenleithnergasse 30/1, 1140 Wien; Tel/Fax: (01) 9124290, www.tomatis-institut.at

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