VISION 20003/2002
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Wir haben keine Tränen mehr

Artikel drucken Gespräch über die Lage im Heiligen Land mit einem, der dort Frieden sät

Elias Chacour wurde für sein Lebenswerk, Schulen für Palästinenser, Juden und Christen in dem von Feindschaft zerrissenen Israel zu betreiben, mit internationalen Friedenspreisen ausgezeichnet. Wir sprachen mit ihm in Wien über seine Anliegen und die Lage im Heiligen Land.

Sehen Sie Anzeichen dafür, daß in absehbarer Zeit ein Prozeß in Gang kommt, der dem Heiligen Land wieder halbwegs Frieden bringt?

Elias Chacour: Ich bin kein Prophet, kein Politiker, nur ein einfacher Bürger, ein Palästinenser, der die Palästinenser liebt, deren Ängste kennt, und der als israelischer Bürger Freundschaft und Verständnis für die Wünsche der Israelis empfindet. Ich habe den Eindruck: Wenn wir uns nicht einhängen, werden wir nebeneinander hängen. Denn wir erreichen jetzt den Gipfel des Horrors: Viele zu massakrieren, gehört zum Alltag, sich in einem überfüllten Bus in die Luft zu jagen, ist kein Problem. Das bringt beide Seiten in eine verzweifelte Lage. Ändert sich das nicht, versinken wir in einem Abgrund des Horrors. Diese verzweifelte Perspektive sollte Anlaß sein, Hoffnung zu mobilisieren.

Sie haben sich seit Jahrzehnten der Friedensarbeit verschrieben. Trifft es Sie besonders hart, daß sich Israelis und Palästinenser jetzt so brutal bekriegen?

Chacour: Ob ich in der Friedensarbeit engagiert war, kann ich nicht sagen. Aber das zentrale Anliegen meines Lebens war es, die zerstörte Würde der Menschen wiederherzustellen. Das bedeutet vor allem, daß ich mit meinem Volk mitgelitten und das Leiden der Juden zu verstehen versucht habe. Ich habe begriffen, daß es unmöglich ist, die Würde und das Selbstwertgefühl wiederherzustellen, solange man nicht auf beiden Seiten erkennt: Ich bin einerseits im Recht, andererseits aber auch im Unrecht. Wenn dieses Bemühen zum Frieden beitrug, habe ich tatsächlich Friedensarbeit geleistet.

Ich habe Schulen gebaut, Kindergärten, habe Sommer-Camps organisiert. 1982 habe ich mit dem Bau einer kleinen Schule für ein kleines Dorf begonnen. Es ist letztlich weitaus mehr aus diesem Projekt geworden, als wir ursprünglich geplant hatten. Maximal 300 Schüler sollten es sein - und heute sind es 4500. Sie kommen aus dem ganzen Land. Die Studenten sind Moslems, Christen, Drusen und Juden. Und Gleiches gilt für den Lehrkörper, der 290 Mitglieder umfaßt.

Welche Art von Ausbildung erteilen Sie?

Chacour: Es sind technische Schulen. 1600 Schüler sind zwischen 14 und 19. 750 verfolgen ein zweijähriges Universitätsstudium. Wir ermöglichen ihnen, nach Ende der Ausbildung wirtschaftlich unabhängig zu sein. Finden sie keine Jobs auf dem Arbeitsmarkt, fangen sie eben etwas Neues an. Außerdem haben wir das einzige Fortbildungszentrum für arabische Lehrer. 1200 folgen einem Vier-Jahres-Programm. Schließlich haben wir eine Schule für begabte arabische Schüler. Sie sollen die Führungskräfte für morgen sein.

Gelingt es diesen Menschen, trotz der Feindseligkeiten rundum noch zusammenzuarbeiten?

Chacour: Es geht ihnen wie den Blumen im Garten: Wenn der Sturm bläst, lassen sie die Köpfe hängen. Sobald die Sonne wieder scheint, blühen sie wieder auf. Wir sind deprimiert, wenn es Tote gibt - auf beiden Seiten.

Und kommt es nicht zu Spannungen unter Ihren Studenten?

Chacour: Ich illustriere die Lage bei uns in Ibillin am besten am Beispiel von drei entscheidenden Begebenheiten: Als ein jüdischer Terrorist in einer Moschee von Hebron 30 betende Moslems massakriert hat, haben wir das in der Schule als abgrundtiefen Skandal empfunden, haben Protestbriefe an die israelischen Behörden geschrieben. Darin stand: Solche Handlungen sind ebenso schlimm wie jene im Zweiten Weltkrieg. Einige Wochen später tötete ein junger Palästinenser bei einem Selbstmord-Attentat in Tel Aviv 15 Juden und verwundete 86 von ihnen. Sofort schrieben wir Beileidsbriefe. Da kamen meine Studenten und sagten: “Abuna - das heißt Vater - wir spenden Blut." Man bedenke: Palästinenser, die für verletzte Juden Blut spenden! Ich habe im Spital in Haiffa angerufen, sie sollen kommen, wir hätten hier viele Blutspender. Und sie kamen: 15 jüdische Krankenschwestern haben von halb neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags Blut von 300 Studenten abgenommen - 300 von 350! An diesem Abend habe ich im israelischen Fernsehen gesagt: “Heute habe ich wieder Hoffnung: Palästinensisches Blut fließt in jüdische Venen, um Leben wiederherzustellen, das getötet hätte werden sollen."

Eine dritte Begebenheit: Zu Beginn der jetzigen Intifada wurde einer meiner Studenten, 17 Jahre alt, von der Armee aufgegriffen, mit Gewehrkolben traktiert und erschossen. Er war Vorsitzender von drei Studentengruppen: arabischen Israelis, jüdischen Israelis und Palästinensern. Sie nennen sich “Saat für den Frieden". In den USA waren sie mit Hillary Clinton, Senatoren und Kirchenführern zusammengekommen, um über Möglichkeiten für den Frieden hier zu sprechen. Dieser Junge wurde umgebracht. Am nächsten Tag mußten wir einfach alle Studenten zusammenrufen, um seines Todes zu gedenken, auch um die enorme Anspannung, die bei uns herrschte, zu bewältigen. Meine jüdischen Lehrer haben gefragt, ob sie da überhaupt kommen sollten. “Ja, warum denn nicht," war meine Antwort. “Wenn Ihr jetzt nicht kommt, braucht Ihr überhaupt nicht mehr kommen. Jetzt brauchen wir euch unter uns." - Und keiner fehlte. Alle kamen. Und sie weinten mit uns, den 30.000 moslemischen Palästinensern, die zum Begräbnis gekommen waren. Das war vor zwei Jahren. Heute weint niemand mehr. Wir haben keine Tränen mehr.

Was fühlt man, wenn man nicht mehr weinen kann?

Chacour: Man spürt einen Knödel im Hals. Man kann ihn schlucken oder ausspucken. Ich war froh, als Patriarch Sabbah von Jerusalem eine Botschaft an die israelische Armee richtete, in der er schrieb: Bitte, feuert nicht auf Häuser und Menschen. Wenn es schon sein muß, schießt auf unsere Kirchen. Wir werden euch vergeben und nicht eure Feinde werden. So aber macht ihr euch Menschen zu Feinden." Damit sind wir am Kern des Problems. Die Massaker bringen Israel nichts. Das untergräbt die Existenz des Staates. Sie schaffen sich damit langfristig nur Feinde. Und das ist so traurig.

Wie gelingt es Ihnen, so unterschiedliche Menschen zusammenzuführen?

Chacour: Die Menschen haben einfach gespürt, daß meine Zuneigung für jeden, egal, woher er kommt, echt ist. Ich habe den Mitarbeitern gesagt: “Ich nehme euch nicht aus Herablassung auf, nicht aus Barmherzigkeit, sondern weil mich Christus gelehrt hat, daß Ihr liebenswert seid, so wie ihr eben seid. Ihr seid in eurer Verschiedenheit liebenswert. Ihr seid nicht nur geduldet." Die Politik der Toleranz ist das Schlimmste, was man Menschen antun kann. Der infame Hitler hat eine Politik der Toleranz gegenüber den Juden praktiziert, sie aber niemals als menschliche Wesen akzeptiert. Seine Toleranz währte gerade bis zur Endlösung. Dann war Schluß mit der Toleranz, und er ist zur Tat geschritten. Ich will weder Juden, noch Moslems, noch mich selbst tolerieren. Ich will jeden annehmen, den Juden, den Moslem, den Menschen, der anders ist als ich. Sie sind für mich wichtig. Weil sie das spüren, kommen sie.

Was ist Ihr Anliegen, wenn Sie in diesen Tagen nach Österreich kommen?

Chacour: Ich komme hierher, weil ich Ihre Hilfe brauche. Sie sollte nicht in erster Linie finanziell sein. Wir brauchen etwas anderes: Wir wollen, daß Sie Ihre Freundschaft zu den Juden nicht aufgeben. Aber bitte: Verbinden Sie damit nicht automatisch eine Feindschaft mit den Palästinensern! Sollten Sie die Palästinenser und ihr Leiden kennengelernt, ihr Recht auf eine Heimat begriffen, ihre Gastfreundschaft erlebt und beschlossen haben, mit uns zu sympathisieren, sind wir dafür dankbar. Sollten Sie sich dabei aber gegen unsere jüdischen Brüder und Schwestern wenden, dann wollen wir Ihre Freundschaft nicht. Denn wir sind uns mittlerweile bewußt, daß wir keine Feindschaften mehr wollen. Was wir brauchen, sind gemeinsame Freunde. Sollten Sie so jemand sein, möge Gott Sie segnen.

Das Gespräch führte CG. Es ist ein Auszug aus einem Interview, das - zum Teil mit anderen Passagen - in “Die Furche" (17/02) erschienen ist. Einen Beitrag über Abuna Elias brachten wir auch in VISION 6/2001. Seine Adresse: Elias Chacour, P.O. Box 102 Ibillin 30012 Galilee, Israel. Tel: 972 4 9866848,
E-Mail: echacour@m-e-c-org

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