Das Kind wird oft - eigentlich sogar grundsätzlich - als Gefahr oder Störenfried für seine Eltern dargestellt. Tatsächlich ist es nicht immer einfach, dem Neuankömmling seinen Platz einzuräumen. Oft bringt das ein gewisses Maß an Opfern mit sich.
Aber es scheint mir unerläßlich zu betonen, daß die Eheleute dank des Kindes zum Bewußtsein der Tiefe ihrer eigenen ehelichen Beziehung gelangen können. Das wird oft nicht genügend ins Licht gestellt.
Das Kind enthüllt nämlich den Eltern den höchsten Sinn ihrer Liebe, sich als Paar für eine Gemeinschaft hinzugeben. Genau das zu tun, verlangt es nämlich von ihnen. Mit einem Wort, es fordert von ihnen, daß sie lernen, Verantwortung zu übernehmen. Daher wird oft gesagt, die Liebe sei die beste Erzieherin - und tatsächlich ist sie das auch.
Indem Mann und Frau einander lieben, entdecken sie, wer sie eigentlich sind. “Sag mir, daß du mich liebst," sagen die Liebenden zueinander, “und ich werde dir in treuer Liebe offenbaren, wer du bist." Aber diese Offenbarung enthält eine überströmende Fruchtbarkeit. Als Paar können sich Mann und Frau einem anderen Leben, nämlich dem des Kindes erschließen.
In Liebe gezeugt, kann das Kind jetzt überhaupt erst das Wesentliche entdecken, nicht das “Ich denke, also bin ich" von Descartes, sondern vielmehr das “Sie lieben sich, also bin ich".
Für mich greift diese zweite Formel viel tiefer als die erste, die sich nur damit begnügt, das Sein und das Denken miteinander zu verknüpfen. Indem es seinen Ursprung entdeckt, kann das Kind ahnen, daß das Sein im Geheimnis der Liebe steckt.
Es kann auch weiterforschen, und sich fragen: “Warum lieben sie einander?" Die Antwort darauf ist einfach und dennoch geheimnisvoll: Weil er es ist, weil sie es ist. Kurzum: Weil sie es wert sind, geliebt zu werden.
In dieser Gemeinschaft, als welche die Familie betrachtet werden kann, wird das Kind begreifen, daß jeder Person Liebe gebührt. Hier ist ein Mensch, der, indem er sich geliebt weiß, sich auch als der Liebe wert fühlt. Und er begreift, daß er dem Geheimnis, das seinem Wesen zugrunde liegt, vertrauen kann.
So versteht man also, daß die Entdeckung des Seins des Lebens und die des Seins der Liebe gleichzeitig stattfinden.
Jean-Marie Meyer
Aus seinem Vortrag beim Symposium der Bewegung Hauskirche am 10. 3. 2002 am Sonntagberg.