Bücher, die auf Interviews mit Kardinälen basieren, scheinen Hochkonjunktur zu haben. Und viele von ihnen (etwa mit den Kardinälen Ratzinger, Meisner, Vlk, Arinze...) sind auch tatsächlich interessant. Jedenfalls ist es dieses Gespräch mit dem Pariser Erzbischof, Kardinal Jean-Marie Lustiger. “Le choix de Dieu" heißt es im französischen Original (Paris 1987), “Gotteswahl" die deutsche Übersetzung.
Das ist gleich das Stichwort für ein Merkmal des Buches, das mich besonders angesprochen hat: Hier kommt jemand zu Wort, dem der Glaube nicht in die Wiege gelegt wurde, sondern der eine Bekehrung erlebt hat. Jean-Marie Lustiger ist Kind agnostischer, polnischer, nach Frankreich ausgewanderter Juden, der erst in seiner Jugend zum Glauben an Jesus Christus fand. Und das spürt man eigentlich das ganze Buch hindurch. Es ist geprägt von der Freude, den Schatz im Acker gefunden zu haben, von der Erfahrung: Im lebendigen, dreifaltigen Gott ist uns alles geschenkt, haben wir die Antworten auf alle Fragen.
Diese Fragen stellen Jean-Louis Missika und Dominique Wolton, zwei “aufgeklärte Wissenschaftler", der eine ein Skeptiker, der andere ein Agnostiker. In diesem Gespräch stoßen also zwei geistige Welten aufeinander. Immer wieder ist zu spüren, wie ihre Denkmuster es den Fragestellern schwermachen, Lustigers Antworten in ihrem Weltbild überhaupt unterzubringen. Aber das macht das Buch auch spannend, selbst wenn es manchmal zu intellektuell ist. Aber dieser Zugang liegt den Franzosen nun einmal.
Um Fragen der Gesellschaft geht es, um die Geschichte, vor allem die des 20. Jahrhunderts, um die Judenfrage klarerweise, um die Beziehung von Wissenschaft und Glaube, um die Zukunft der Kirche ... Die unseligen Dauerbrenner (Wiederverheiratete, Zölibat, Empfängnisregelung...) werden, Gott sei Dank, nicht hochgespielt.
Vieles aus dem Leben des Kardinals kommt zur Sprache, seine jüdische Herkunft, seine Bekehrung, seine Zeit als Offizier in Berlin, als Universitätsseelsorger in Paris, als Bischof von Orléans, als Erzbischof von Paris... Unpathetisch geäußerte, sympathisch wirkende Einblicke in das Leben des heute 76jährigen.
Gefallen hat mir zum Beispiel, was Lustiger antwortet, als er zum Thema Macht des Bischofs befragt wird - ob sich sein Leben überhaupt von dem eines Politikers oder Unternehmers unterscheide: “Ich verbringe etwa zwei Drittel meiner Zeit damit, die Eucharistie zu feiern, das Wort Gottes zu verkündigen und den Gläubigen Sakramente zu spenden. Die Zeit für meine persönlichen Gebete ist darin noch nicht enthalten. ... Das ist der Kern meiner Arbeit. Alles übrige steht im Dienste dieser ursprünglichen Sendung."
Ich belasse es bei diesem Zitat. Bei der Fülle der behandelten Themen erscheint es nicht sinnvoll, Antworten auf einzelne Fragen hier wiederzugeben. Wer bereit ist, auch einmal ein dickeres Buch zu lesen, dem sei die Lektüre von “Gotteswahl" empfohlen. Durch die Gliederung in Frage und Antwort kann man das Buch gewinnbringend auch in kleinen Portionen vor dem Einschlafen lesen.
CG
Gotteswahl. Jean-Marie Lustiger im Gespräch mit Jean-Louis Missika und Dominique Wolton. Sankt Ulricht Verlag, 470 Seiten, Neuauflage des 1992 erstmals in Deutsch erschienenen Buches.